4.9.2  Die Bogenlänge einer Jordanschen Kurve.

Die Funktion φ : [a,b] n erzeuge eine Jordansche Kurve Γφ. Wir betrachten eine Zerlegung δ = {tk}k=0m von [a,b],

a = t0 < t1 < < tn1 < tm = b.

Es seien Ak = φ(tk) Γφ, k = 0,,m und wir betrachten den Polygonzug Aδ := A 0A1¯,A1A2¯,,Am1Am¯. Dann ist

l(Aδ) = k=0m1 φ(t k+1) φ(tk) = k=0m1 A k+1 Ak

die Länge des Polygonzuges.Fügt man zur Zerlegung δ weitere Punkte hinzu, so kann nach der Dreiecksungleichung diese Länge dabei nicht abfallen. Dies motiviert folgende Definition:

Definition 4.9.6. Ist die Grösse L(Γφ) = sup δl(Aδ) endlich8, so nennen wir die Kurve Γφ rektifizierbar und L(Γφ) bezeichnet die Bogenlänge der Kurve Γφ.

Problem 4.9.7. Beweisen Sie, dass L(Γ) nicht von der Wahl der konkreten Parametrisation φ der Jordanschen Kurve Γ = Γφ abhängt.

 

Problem 4.9.8. Die Funktion φ : [a,b] n erzeuge eine rektifizierbare Jordansche Kurve Γφ = φ([a,b]). Es sei c ]a,b[. Dann sind auch die Kurven Γ1 = φ([a,c]) und Γ2 = φ([c,b]) rektifizierbar und die Bogenlänge ist dabei additiv

L(Γφ) = L(Γ1) + Γ(Γ2).

Theorem 4.9.9. Die Funktion φ : [a,b] n erzeugt eine Jordansche Kurve Γφ der Klasse C1. Dann ist Γφ rektifizierbar und es gilt

L(Γφ) =ab φ(t) dt. (4.58)

Beweis. Schritt 1: Es sei δ = {tk}k=0m eine Zerlegung von [a,b]. Dann gilt nach dem Hauptsatz der Differentialrechnung

Ak+1 Ak = φ(tk+1) φ(tk) max t[a,b] φ(t) |t k+1 tk|

und folglich l(Aδ) = k=0m1 A k+1 Ak max t[a,b] φ(t) k=0m1|t k+1 tk| max t[a,b] φ(t) |b a|.

Damit besitzt die Menge der Längen aller Polygonzüge Aδ die obere Schranke l(Aδ). Folglich existiert

Γφ = sup δl(Aδ) max t[a,b] φ(t) |b a|.

Damit ist Γφ rektifizierbar.

Schritt 2: Für eine Zerlegung δ von [a,b] betrachten wir die beiden Summen

S1δ := l(Aδ) = k=0m1 φ(t k+1) φ(tk)

sowie

S2δ := k=0m1 φ(t k) Δtk = k=0m1 φ(t k)(tk+1 tk) .

Dann folgt nach (2.39) |S2δ S 1δ| k=0m1 φ(t k)(tk+1 tk) k=0m1 φ(t k+1) φ(tk) k=0m1 φ(t k)(tk+1 tk) φ(tk+1) φ(tk) k=0m1 φ(t k)(tk+1 tk) φ(tk+1) + φ(tk) k=0m1 θ k(tk+1) θk(tk) ,

wobei

θk(t) = φ(t) φ(t k) t,t Δk = [tk,tk+1],k = 0,,m 1.

Nach den Voraussetzungen des Satzes sind diese Funktionen stetig differenzierbar auf Δk. Dabei gilt θk(t) = φ(t) φ(t k) und mir Hilfe des Hauptsatzes der Differentialrechnung erhält man |S2δ S 1δ| k=0m1 max tΔk θk(t) |t k+1 tk| k=0m1 max tΔk φ(t) φ(t k) Δtk.

Es seien φj(t) = π j(φ(t)) für j = 1,,n die einzelnen Komponenten der Vektorfunktion φ(t). Dann folgt wegen (2.36)9 S2δ S 1δ k=0m1 max tΔk j=1n|π j(φ(t) φ(t k))|Δtk k=0m1 j=1n max tΔk|πj(φ(t)) π j(φ(t k))|Δtk j=1n k=0m1ω(φ j, Δ k)Δtk.

Nach Voraussetzung sind die Komponenten φj(t) stetige Funktionen auf [a,b]. Wie im Beweis von Satz 4.1.6 gezeigt gilt dann

lim λ(δ)0 kω(φj, Δ k)Δtk = 0,j = 1,,n,

und folglich auch

lim λ(δ)0 S2δ S 1δ = 0. (4.59)

Nach den Voraussetzungen dieses Satzes ist φ(t) = (φ)(t) als Komposition stetiger Funktionen selbst stetig und damit nach Satz 4.1.6 integrierbar. Folglich konvergiert die der Wahl der Stützstellen ξ = {tk}k=0m1 zur Zerlegung δ = {tk}k=0m entsprechende Riemann-Summe

S2δ = Σ( φ ; δ,ξ)

gegen den Wert des zugehörigen bestimmten Integrals

lim λ(δ)0S2δ =ab φ(t) dt.

Zusammen mit (4.59) folgt daraus

S := lim λ(δ)0S1δ =ab φ(t) dt. (4.60)

Schritt 3: Es bleibt zu zeigen, dass

S = lim λ(δ)0l(Aδ) = sup δl(Aδ) = L(Γ φ). (4.61)

Wie im Schritt 1 gezeigt ist Γφ rektifizierbar und L(Γφ) = sup δl(Aδ) ist endlich. Da dies die kleinste obere Schranke der Werte L(Aδ) ist, so gibt es zu jedem ε > 0 eine Zerlegung δε von [a,b] mit der Eigenschaft.

l(Aδε ) = S1δε > L(Γφ) ε.

Da sich bei einer Verfeinerung der Zerlegung δε die Länge des zugehörigen Polygonzuges nur verlängern kann, so erhält man auch

l(Aδ ) = S1δ > L(Γφ) ε,δ δ ε. (4.62)

Zum anderen ist die Konvergenz (4.60) gleichbedeutend damit, dass zu jedem ε > 0 ein Λε > 0 existiert, so dass

S S1δ < ε (4.63)

für alle Zerlegungen δ mit λ(δ) < Λε. Verfeinert man z.B. δε zu δ = δ δ ε mit λ(δ) < Λ ε, so gelten (4.62) und (4.63) gleichzeitig. Daraus folgt

L(Γφ) S < 2ε

für beliebiges ε > 0. Also sind diese beiden Grössen gleich. □

Problem 4.9.10. Führen Sie die Rechnungen mit dem Grenzwert lim λ(δ)0 im obigen Beweises auf die ε-Λε-Sprache und damit die Definition des Grenzwertes lim λ(δ)0 zurück!

Example 4.9.11. Wir betrachten eine Jordansche Kurve gegeben durch φ : [a,b] 2 und schreiben φ(t) = (x(t),y(t)). Die Ableitung dieser Funktion ist gleich φ = φ° = ((t),(t)). Hier benutzen wir die verbreitete Kurzschreibweise “ ” für die Ableitung d dt in der Variablen t. Ist φ von der Klasse C1, dann geht (4.58) in

L(Γφ) =ab( (t))2 + ( (t))2dt (4.64)

über. Für die spezielle Parametrisierung t = x, y(t) = y(x) folgt

L(Γφ) =ab1 + (y (x))2dx. (4.65)

Problem 4.9.12. Geben Sie die Formel für die Bogenlänge einer ebenen Jordanschen Kurve in Polarkoordinaten an! Wie sieht die Verallgemeinerung von (4.64) auf Kurven im n aus?

8Hier bezeichnet supδl(Aδ) die kleinste obere Schranke der Menge der Längen l(Aδ) aller Polygonzüge Aδ für alle möglichen Zerlegungen δ von [a,b].

9Analysieren Sie, warum man bei Erhalt der Ungleichung die Operationen maxtΔk und j=1n in der gegebenen Richtung vertauschen kann!