Michael Eisermann

C'est par la logique que l'on prouve
et par l'intuition que l'on découvre.

— Mit der Logik beweisen wir,
mit der Intuition entdecken wir.
Henri Poincaré (1854–1912)

Algebraische Topologie 1

Vorlesung im Wintersemester 2015 (Veranstaltungsnummer 01492)

Vorlesung Fr 9:45 - 13:00 Raum V57-7.530
Übung Do 14:00 - 15:30 Raum V57-7.530

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Aktuelles

"Herr, es ist Zeit. Das Wintersemester war sehr lang." Ein herzliches Dankeschön an alle Teilnehmer für Ethusiasmus und Ausdauer, Fragen und Anregungen, Mitarbeit und Unterstützung! Schön war die Zeit. Fortsetzung: Algebraische Topologie 2.

Diese Seite wird nicht mehr regelmäßig aktualisiert; sie wird aber noch längere Zeit zugänglich bleiben, um als Archiv zu dienen. Zur Übersicht: Lehrveranstaltungen

Einleitung und Motivation

Point set topology is a disease from which
the human race will soon recover.

Henri Poincaré (1854–1912)

Was ist algebraische Topologie?

Die algebraische Topologie untersucht topologische Räume und stetige Abbildungen mit algebraischen Hilfsmitteln. Den Räumen werden Gruppen zugeordnet (und weitere algebraische Strukturen, zum Beispiel graduierte Moduln oder Algebren) und den Abbildungen werden Homomorphismen zugeordnet. So entsteht ein algebraisches Abbild des ursprünglich topologischen Sachverhalts. Oft ist das algebraische Abbild leichter zu verstehen und erlaubt so eine Lösung des topologischen Problems. In günstigen Fällen funktioniert die Übersetzung auch umgekehrt, und die Topologie erleuchtet die Algebra.

Fundamentalgruppe und Überlagerungen

Ein typisches Beispiel kennen Sie aus der Grundvorlesung zur Topologie: die allgegenwärtige Fundamentalgruppe und das hierzu duale Konzept der Überlagerung. Beide sind geometrisch unmittelbar zugänglich und erlauben eine algebraische Sichtweise auf topologische Räume.

Erste Anwendungen sind der Brouwersche Fixpunktsatz (zunächst in Dimension 2), der Jordan-Brouwersche Zerlegungssatz (zunächst in der Ebene), die Invarianz der Dimension (zunächst bis Dimension 2). Diese Aussagen gelten auch in höherer Dimension, die Fundamentalgruppe reicht hierzu allerdings nicht aus und muss zu höherdimensionalen Werkzeugen ausgebaut werden.

Homotopiegruppen und Faserungen

Die Fundamentalgruppe ist die erste Homotopiegruppe. Zu Beginn der Vorlesung werden wir diese Konstruktion kurz wiederholen und zu höheren Homotopiegruppen verallgemeinern. Dual hierzu werden wir den Begriff der Überlagerung zu Faserbündeln verallgemeinern. (Den noch flexibleren Begriff der Faserung werden wir hier ebenfalls kennenlernen.) Diese Objekte spielen auch in der Differentialgeometrie eine wichtige Rolle, vor allem als Tangentialbündel einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit.

Homotopiegruppen sind wichtige und mächtige Werkzeuge: Sie erklären, was die (topologische) Welt im Innersten zusammenhält. Sie sind allerdings notorisch schwer zu berechnen, dazu brauchen wir weitere Werkzeuge...

Homologie und Kohomologie

Zwecks leichterer Berechenbarkeit werden wir Homologiegruppen einführen und in einigen wichtigen Beispielen berechnen. Diese erfreuen sich besonderer struktureller Eigenschaften: Homotopieinvarianz, lange exakte Homologiesequenz, Additivität, Ausschneidung. Diese kann man als Axiome für die Homologie nutzen und zur konkreten Berechnung anwenden auf zelluläre Homologie, Mayer-Vietoris-Sequenz, Künneth-Formel...

Dual zur Homologie ist die Kohomologie. Anders als die Homologie trägt sie ein natürliches und überaus nützliches Produkt, das sogenannte Cup-Produkt. Somit kann jedem topologischen Raum ein Kohomologiering zugeordnet werden, der wesentliche geometrisch-topologische Eigenschaften in algebraische Eigenschaften übersetzt. (Hierzu mehr im zweiten Teil der Vorlesung.)

Warnhinweise

An der Topologie, insbesondere der algebraischen Topologie, scheiden sich die Geister: Die einen halten die sie für schwer zugänglich und schwindelerregend abstrakt. Die anderen finden sie außerdem noch elegant und schön.

In these days the angel of topology and the devil of abstract algebra
fight for the soul of every individual discipline of mathematics.

Hermann Weyl (1885–1955)

Zielsetzung der Vorlesung

Die Vorlesung vermittelt die Grundlagen der algebraischen Topologie: Homotopiegruppen und Faserbündel, Homologie und Kohomologie. (Diese Themen werden im Sommersemester in der Vorlesung Algebraische Topologie 2 fortgesetzt.) Ziel sind dabei immer zwei komplementäre Kompetenzen: das Verständnis sowohl konkreter Anwendungen als auch der allgemeinen Theorie. Das eine ist ohne das andere kaum denkbar.

Zitat aus dem Modulhandbuch: Die Studenten erlernen die Grundlagen der algebraischen Topologie. Sie sind in der Lage, die behandelten Methoden selbstständig, sicher, kritisch, korrekt und kreativ anzuwenden.

Literatur

Es gibt viele Lehrbücher zur algebraischen Topologie, darunter auch einführende und gut lesbare.

Jedes dieser Lehrbücher hat seine eigenen Vorzüge und betont etwas andere Motivationen, Sichtweisen und Schwerpunkte: Das Spektrum reicht von geometrisch-topologisch bis formal-algebraisch. Sie sollten daher in möglichst vielen Büchern schmökern, um sich einen Überblick zu verschaffen und Ihr Lieblingsbuch zu finden.

Eine detaillierte Darstellung aus historischer Perspektive bieten:

Ich möchte im Wesentlichen dem wundervollen Buch von Hatcher folgen. Es ist schön geschrieben, umfasst viel Stoff und ist eine gute langfristige Investition. (Ich werde mir nicht verkneifen können, meinen Senf dazuzugeben; lokal hängt der Verlauf auch von Ihren Reaktionen und Fragen ab.) Das Buch ist elektronisch frei erhältlich, und man kann es auch gedruckt günstig kaufen — über 500 Seiten für unter 30€.

Organisation der Vorlesung

Voraussetzungen

Inhaltliche Voraussetzung sind Algebra und Topologie. Aus der Algebra verwenden wir die Grundbegriffe der Gruppen, Ringe, Moduln und ihrer Homomorphismen. Aus der Topologie brauchen wir neben der allgemeinen Topologie vor allem die Fundamentalgruppe und Überlagerungen sowie als Beispielfundus auch Simplizialkomplexe und die Klassifikation der Flächen. Aus der Analysis bzw. Geometrie ist der Begriff der (Unter)Mannigfaltigkeit hilfreich, denn diese sind eine wichtige Beispielklasse interessanter topologischer Räume.

Allgemeine Voraussetzung: Jede ernsthafte Beschäftigung mit Mathematik erfordert zunächst einmal Interesse, Neugier und Offenheit für Probleme und sodann Kreativität, Sorgfalt und Hartnäckigkeit bei deren Lösung. Da dies eine vertiefende Vorlesung ist, wird die (schwer definierbare und nur indirekt lehrbare) Eigenschaft der mathematischen Reife vorausgesetzt.

Prüfungen

Da die Teilnehmerzahl überschaubar ist, schlage ich Ihnen mündliche Prüfungen vor. Im Anschluss an die Vorlesung können Sie Prüfungstermine jederzeit mit mir ausmachen.

Themen

Themen der Vorlesungen Algebraische Topologie 1 und 2:

The traditional mathematics professor
of the popular legend is absentminded. (...)
He writes a, he says b, he means c; but it should be d.

George Pólya (1887–1985), How to solve it

Termine

Vorlesungsbeginn am 12. Oktober 2015
Ü01 Do 15.OktÜbungen zur Wiederholung — oder doch eher als Ausblick?
V01 Fr 16.Okt V02 Fr 16.OktOrganisatorisches. Überblick. §1 Fundamentalgruppoid, Funktorialität, Fundamentalgruppe, polygonal für offene Mengen \(X \subset \R^n\), mehrfach gelochte Ebene und freie Gruppen, Präsentation durch Erzeuger und Relationen, einfache Beispiele, Cayley-Graphen.
V03 Fr 23.Okt V04 Fr 23.OktAbstrakte Simplizialkomplexe, geometrische Realisierung, simpliziale Topologie. Graphen und (Spann-)Bäume. Simpliziale Fundamentalgruppe, Präsentation durch Erzeuger und Relationen, Beispiele.
V05 Fr 30.Okt V06 Fr 30.OktSeifert-van Kampen. Einfachster Fall: Nerv einer Überdeckung als Simplizialkomplex, Beispiele. Allgemeiner Fall: Gruppenkomplex \(\Gamma = (I,\to,G_i,h_{ij},g_{ijk})\), Gruppenisomorphismus \(\pi_1(\Gamma,*) \isoto \pi_1(X,*)\). Zahlreiche Beispiele, freie Produkte, amalgamierte Produkte.
V07 Fr 06.Nov V08 Fr 06.NovVerspätung durch S-Bahn-Ausfall; ich bitte um Entschuldigung. Beweis-Skizze zum Satz von Seifert-van Kampen. Surjektivität von \(\pi_1(\Gamma_{\le1},*) \to \pi_1(X,*)\) durch Unterteilung und Modifikation von Wegen. Bijektivität von \(\pi_2(\Gamma_{\le1},*) \to \pi_1(X,*)\) durch Unterteilung und Modifikation von Homotopien.
V09 Fr 13.Nov V10 Fr 13.NovAnheften von Zellen, Zellkomplexe, zelluläre Topologie, zahlreiche Beispiele: Graphen, \(\R^n\), \(\S^n\), \(\R\P^n\), Torus, Flächen. Gegenbeispiele: \(\Q\), rationaler Kamm, hawaiianischer Ohrring. Kompaktheit und Endlichkeit, Euler-Charakteristik, Präsentation der Fundamentalgruppe durch Erzeuger und Relationen.
V11 Fr 20.Nov V12 Fr 20.NovZelluläre Präsentation: ausführliche Konstruktion und Beweis mit Seifert-van Kampen. §2 Überlagerungen, Beispiele, Hochhebungen, Eindeutigkeit, Eindeutigkeit für \([0,1]^n\) insb. Wege und Homotopien, erste Folgerungen, Anwendung: Sätze von Gelfand-Mazur und Hopf.
V13 Fr 27.Nov V14 Fr 27.NovGruppenoperationen und Galois-Überlagerungen. Kurze exakte Sequenz einer Galois-Überlagerung. Galois-Korrespondenz: allgemeiner Satz, explizite Konstruktion für Graphen und Simplizialkomplexe. Spezialfall universelle Überlagerung.
V15 Fr 04.Dez V16 Fr 04.DezLeider fällt die Vorlesung aus. Bitte lesen Sie ein gutes Buch.
V17 Fr 11.Dez V18 Fr 11.Dez§2.5 Hochhebungskriterium, Anwendungen, normale und nicht-normale Überlagerungen. §3.1 Höhere Homotopiegruppen, erste Eigenschaften.
V19 Fr 18.Dez V20 Fr 18.Dez§3.2 Relative Homotopiegruppen, Kompression, lange exakte Homotopiesequenz eines Raumpaares \((X,A,x_0)\). §3.3 Faserbündel, global trivial über \([0,1]^n\).
V21 Fr 08.Jan V22 Fr 08.Jan§3.4 Lange exakte Homotopiesequenz eines Faserbündels. Hopf-Faserung und \(\pi_3(\S^2)\).
V23 Fr 15.Jan V24 Fr 15.Jan§4.1 Simplizialkomplex \(K\), Kettenkomplex \((C_\bullet(K),\partial_\bullet)\), Homologie \(H_*(K) = H_*(C_\bullet(K),\partial_\bullet)\), Funktorialität. §4.2 Kegel und Kettenhomotopie. Einfache Beispiele, Bälle und Sphären, Flächen.
V25 Fr 22.Jan V26 Fr 22.Jan§4.3 Relative Homologie, konkrete Beispiele zur illustration, lange exakte Homologiesequenz, Diagrammjagden.
V27 Fr 29.Jan V28 Fr 29.Jan§5.1 Homologie-Axiome von Eilenberg-Steenrod-Milnor. Naive (Gegen-)Beispiele. Existenz- und Eindeutigkeitssatz. §5.2 Konstruktion durch singuläre kubische Ketten. Funktiorialität. Dimensionsaxiom. Lange exakte Homologiesequenz. Additivität.
V29 Fr 05.Feb V30 Fr 05.FebHomotopieinvarianz. Unterteilung von Würfeln, kleine Ketten, Ausschneidung, Mayer-Vietoris. Berechnungen. §5.3 Zelluläre Homologie, Spezialfall simpliziale Homologie, Illustration durch \(\S^n\) und \(\R\P^n\).
Vorlesungsende am 6. Februar 2016