Was besagt die Poincaré-Vermutung?
Über die Poincaré-Vermutung liest man in letzter Zeit sogar in der Presse, von seriös („Jahrhunderträtsel“ in der Zeit) bis reißerisch („Bild erklärt das Millennium-Problem“). Oft wird die Sensation beschworen, doch die eigentliche Aussage nur angedeutet.
Im März 2010 war ein erneuter Auslöser der hochdotierte Clay-Milleniums-Preis. Der folgende Artikel entstand als Antwort auf die mir gelegentlich gestellte Frage: Was besagt die Poincaré-Vermutung? Ich hoffe, meine (nicht ganz kurze) Antwort nützt der einen oder dem anderen. Für bin ich stets dankbar.
Überblick in Stichworten
Nicht-mathematische Einführung:
- Packungsbeilage: An wen richtet sich dieser Text?
- Perelmans spektakulärer Beweis der Poincaré-Vermutung
- Woher kommt das Medieninteresse?
- Wovon handelt die Poincaré-Vermutung?
Anschauliche Beispiele in zwei Dimensionen:
- Analogie in zwei Dimensionen: Was sind Flächen?
- Wie kann man Flächen klassifizieren?
- Was genau ist eine Sphäre?
- Exkurs: Welche Form hat die Erde?
- Was zeichnet die zweidimensionale Sphäre aus?
Verallgemeinerung in drei Dimensionen:
- Was ist ein dreidimensionaler Raum?
- Was ist die dreidimensionale Sphäre?
- Exkurs: Welche Form hat unser Universum?
- Die Poincaré-Vermutung
- Die Beweis-Idee
Packungsbeilage: An wen richtet sich dieser Text?
Der folgende Text enthält eine leichte Dosis Mathematik und kann zu Schwindel oder Kopfzerbrechen führen. Im Zweifel fragen Sie bitte Ihre:n betreuende:n Mathematiker:in. Falls keine Allergie vorliegt, sollte der Artikel allgemein verständlich sein. Benötigt wird ein wenig Schulmathematik (kartesische Koordinaten und der Satz des Pythagoras).
Wer die Poincaré-Vermutung verstehen und auf der nächsten Party damit glänzen will, braucht zudem etwas Geduld. Ein MP3-Player oder eine Bankkarte sind leider auch nicht leicht zu verstehen, wenn wir genau hinschauen, und so ist es mit vielen Fortschritten, auch mathematischen. Dennoch lohnt es, auf Entdeckungsreise zu gehen und es zu versuchen!
Weite Teile der Wissenschaften – und die Mathematik bildet hier keine Ausnahme – erschließen sich erfahrungsgemäß nur durch ein längeres Studium und weisen jeden flüchtigen Besucher ab. Dennoch gibt es herausragende Einzelergebnisse, die sich zumindest in ihrer Aussage allgemein erläutern lassen. Dies soll hier versucht werden.
Jedenfalls möchte ich mich nicht zufrieden geben mit der – ehrlichen aber resignierten – Zusammenfassung, die Vermutung sei „so kompliziert, dass sie nicht nur für Laien unverständlich ist, sondern auch die Künste vieler Experten übersteigt“ (Stern, Focus, nach DPA). Bevor ich jedoch vom Inhalt der Poincaré-Vermutung spreche, beginne ich mit ihrer bewegten Geschichte und der Faszination, die sie ausstrahlt.
Perelmans spektakulärer Beweis der Poincaré-Vermutung
Die Poincaré-Vermutung wurde 1904 vom französischen Mathematiker und Physiker Henri Poincaré formuliert und galt hundert Jahre lang als eines der schwierigsten Probleme der Geometrie, genauer gesagt dem mathematischen Teilgebiet der Topologie (hierzu gleich mehr).
Im Jahr 2000 wählte das Clay Mathematics Institute in Cambridge/Massachusetts die Poincaré-Vermutung zu den sieben bedeutendsten ungelösten Problemen der Mathematik und lobte für die Lösung jeweils einen Preis von einer Million US-Dollar aus.
Die Poincaré-Vermutung wurde inzwischen von dem russischen Mathematiker Grigori Perelman bewiesen. Für seine revolutionäre Arbeit wurde er 2006 mit der Fields-Medaille der Internationalen Mathematischen Union ausgezeichnet. Dies ist eine der höchsten Auszeichnungen in der Mathematik, vergleichbar mit dem Nobelpreis in anderen Disziplinen. Zum Erstaunen vieler Kollegen lehnte Perelman die Fields-Medaille ab. Er erschien nicht zur Preisverleihung beim Internationalen Mathematikerkongress, der alle vier Jahre stattfindet, und lebt auch sonst sehr zurückgezogen.
Perelman hat seinen Beweis 2002/2003 im Internet veröffentlicht (auf dem Preprint-Server arXiv) und ihn auf einer Vortragsreihe in den USA vorgestellt. Die sonst übliche Veröffentlichung in einem Fachjournal hat er abgelehnt. Der Beweis wurde in den letzten Jahren von mehreren Expertengruppen geprüft und ausgearbeitet und gilt inzwischen als anerkannt. Am 18. März 2010 wurde Perelman der Millennium-Preis von einer Million US-Dollar zugesprochen. Allem Anschein nach wird Perelman auch diesen Preis ablehnen.
Woher kommt das Medieninteresse?
Technischer Fortschritt ist ohne Mathematik unmöglich. Dennoch machen mathematische Errungenschaften selten Schlagzeilen. Die Mathematik prägt zwar eine wachsende Zahl technischer Anwendungen unseres Alltags, bleibt aber zumeist diskret hinter den Kulissen. Mathematische Grundlagenforschung ist im Alltag kaum offen sichtbar, gilt als schwer vermittelbar und wird daher in den Medien selten thematisiert. Das ist schade!
So kommt es, dass nur die spektakulärsten Einzelergebnisse in die öffentliche Diskussion vordringen. Dass eine prominente Vermutung ein Jahrhundert lang allen Lösungsversuchen trotzt, ist zwar bemerkenswert aber in der Mathematik nicht ungewöhnlich. Dass der Glückliche, der ein Jahrhundertproblem endlich gelöst hat, alle Ehrungen und Stellenangebote ablehnt, ist in diesem Extrem selbst in der Mathematik einmalig.
Zum gewaltigen Medienecho beigetragen hat vor allem das ungewöhnlich hohe Preisgeld von einer Million Dollar: Dieser Wert ist willkürlich aber für jedermann verständlich. Daraus lässt sich eine gute Geschichte machen. Um die äußeren Umstände der Poincaré-Vermutung wurde daher viel Wirbel gemacht.
Nur selten jedoch wurde aus den Medienberichten klar, was die Vermutung eigentlich aussagt. Hundert Jahre mathematische Entwicklung lassen sich schwer in einem Satz zusammenfassen – und eine solcherart unmögliche Aufgabe ist der Schrecken jedes Wissenschafts-Journalisten. (Ich will das gar nicht erst versuchen, sondern mir im Folgenden lieber die nötige Zeit nehmen und etwas weiter ausholen.)
In etwa vergleichbar ist das populäre Interesse an Poincaré mit der Fermatschen Vermutung, die 1993 von Andrew Wiles bewiesen wurde. Letztere hat den medialen Vorteil, dass sich ihre Aussage in wenigen einfachen Worten erklären lässt, so schwierig der zugehörige Beweis auch sein mag.
Die Poincaré-Vermutung ist medial gesehen sperriger. Sie lässt sich in wenigen – aber eben nicht ganz einfachen – Worten so formulieren:
Wenn ein dreidimensionaler geschlossener Raum einfach-zusammenhängend ist,
dann ist dieser Raum topologisch identisch mit der dreidimensionalen Sphäre.
Die hierzu verwendeten Begriffe sollen nun schrittweise erläutert werden.
Wovon handelt die Poincaré-Vermutung?
Unserer Alltagserfahrung nach leben wir in einer dreidimensionalen Welt. Wenn wir ehrlich sind kennen wir vom Universum jedoch nur einen kleinen Ausschnitt: In unserer unmittelbaren Umgebung lässt sich jeder Punkt durch drei Koordinaten eindeutig darstellen wie wir das in der Schule gelernt haben. Eine solche lokale Karte beschreibt unsere Umgebung – nicht aber das gesamte Universum.
Poincaré fragte sich nun: Wie können dreidimensionale Räume global aussehen?
Stellen Sie sich zur Vereinfachung vor, Sie wären eine Ameise, die auf einer Kugeloberfläche lebt. Ihre Welt erscheint Ihnen zunächst wie eine große Ebene. Ihre unmittelbare Umgebung können Sie durch zwei Koordinaten beschreiben und so eine Karte erstellen. Das ist eine lokale Beschreibung Ihrer Welt.
Sie könnten sich als Nächstes fragen, ob die Fläche begrenzt ist oder ob sie sich in unendliche Weiten erstreckt. Um dies herauszufinden brechen Sie zu einer Expedition auf, die Sie nach einer Weltumrundung wieder an ihren Ausgangspunkt zurückbringt – mit der Erkenntnis, dass die Fläche, auf der Sie leben, endlich aber randlos ist.
Daraus folgt, dass Sie auf einer Kugel leben, oder? Vielleicht auch nicht: Wie wir gleich sehen werden gibt es auch andere Flächen, die ebenso endlich und randlos sind, sich aber wesentlich von der Kugeloberfläche unterscheiden. Sie brauchen also noch mehr Informationen, um auf die Kugelgestalt Ihrer Welt schließen zu können. Genauso verhält es sich in drei Dimensionen, und davon handelt die Poincaré-Vermutung.
Wie die fiktive Ameise in zwei Dimensionen, so ging Poincaré in drei Dimensionen auf eine Gedankenreise: Welche Form können dreidimensionale Räume haben? Und welche Informationen braucht man, um diese Formen unterscheiden zu können? Die Poincaré-Vermutung charakterisiert den einfachsten dreidimensionalen Raum, die dreidimensionale Sphäre. Diese Vermutung soll im Folgenden skizziert werden.
Analogie in zwei Dimensionen: Was sind Flächen?
Als Analogie beginnen wir am besten in zwei Dimensionen, da man zweidimensionale Räume (also Flächen) leichter visualisieren kann als dreidimensionale Räume. Anstelle einer abstrakten Definition zunächst ein paar fundamentale Beispiele:
Zu den Flächen gehören die zweidimensionale Sphäre (also die Kugeloberfläche), ebenso der Torus (die Oberfläche eines Vollrings), der Doppeltorus (mit zwei Löchern), die Oberfläche eines Brezels (mit drei Löchern), und so weiter...
Solche Objekte bezeichnet man als Flächen. Im Kleinen sehen sie alle gleich aus: sie lassen sich lokal durch zwei Koordinaten beschreiben, daher nennt man eine Fläche auch einen zweidimensionalen Raum.
Global gesehen sind diese Flächen allerdings sehr verschieden. Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Topologie, ein Teilgebiet der Geometrie. Zunächst geht es darum, solche Räume als verschieden oder als gleich zu erkennen.
Wie kann man Flächen klassifizieren?
So unterschiedliche Dinge wie ein Autoreifen und eine Kaffeetasse mit einem Henkel gelten als topologisch gleich: wären sie aus Knete, könnte man das eine Objekt in die Form des anderen bringen, ohne dass man ein Loch bohren oder etwas ankleben müsste. Topologisch verschieden vom Autoreifen hingegen sind beispielsweise eine Kugel oder eine Brezel: die Kugel hat kein Loch und die Brezel hat drei. Sie lassen sich deshalb nicht durch stetige Verformung ineinander überführen.
Um die verschiedenen Arten von Flächen auseinander halten zu können, brauchen wir das passende Vokabular.
Eine Fläche heißt geschlossen, wenn sie endlich und randlos ist. (Statt „endlich“ sagen Topologen lieber „kompakt“). Sphäre, Torus, Doppeltorus, etc. sind Beispiele geschlossener Flächen. Die aus der Schule bekannte euklidische Ebene hat zwar keinen Rand, ist aber unendlich. Eine Kreisscheibe ist zwar endlich, hat aber einen Rand.
Eine Fläche heißt orientierbar, wenn sie zwei Seiten hat. Die obigen Beispiele sind alle orientierbar. Es gibt auch nicht-orientierbare Flächen, wie zum Beispiel das beliebte Möbiusband. Auf diese wundersamen Kreaturen will ich hier nicht eingehen.
Es gibt zwar unendlich viele verschiedene Flächen, aber glücklicherweise man kann sich einen guten Überblick verschaffen. Die Klassifikation der Flächen ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt: Jede geschlossene, orientierbare Fläche entspricht genau einem der obigen Modelle, mit einer gewissen Anzahl von Löchern. Das ist nicht ganz so banal wie es klingt: Können Sie die links abgebildete Fläche mit einer aus unserer Liste identifizieren? (Wie viele Löcher hat sie? eins,zwei,drei,vier,...?)
Was genau ist eine Sphäre?
Nachdem wir uns bei Flächen einen Überblick verschafft haben, schauen wir uns die Sphären genauer an. Sphären gehören zu den einfachsten mathematischen Objekten. Es gibt sie in jeder Dimension und sie lassen sich schon mit ein wenig Schulmathematik beschreiben: Die eindimensionale Sphäre ist nichts anderes als die Kreislinie, die zweidimensionale Sphäre ist die Kugeloberfläche, und die dreidimensionale Sphäre ist... nun ja, das wollen wir noch herausfinden!
In der Ebene können wir jeden Punkt durch zwei Koordinaten (x,y) beschreiben. Der Abstand r dieses Punktes zum Ursprung lässt sich mit dem Satz des Pythagoras berechnen, denn es gilt r² = x² + y². Alle Punkte mit Abstand r=1 zum Ursprung bilden den Einheitskreis. Dieser besteht demnach aus allen Punkten (x,y) mit x² + y² = 1. Er ist der eindimensionale Rand der zweidimensionalen Kreisscheibe. Letztere besteht aus allen Punkten (x,y) mit x² + y² ≤ 1 (in der Skizze gelb eingezeichnet).
Warum nennen wir die Kreislinie eindimensional? Lokal lässt sich jeder Punkt eindeutig durch eine Koordinate beschreiben, zum Beispiel den Winkel. Unsere Beschreibung durch zwei Koordinaten (x,y) entsteht dadurch, dass wir die Kreislinie in die Ebene einbetten. Auf der Kreislinie ist allerdings nur eine der beiben Koordinaten x,y frei beweglich, die andere berechnet sich daraus: zum Beispiel können wir um den Punkt (x,y) = (0,1) herum x frei bewegen und daraus berechnet sich y = √(1-x²).
Gehen wir eine Dimension höher. Im euklidischen Raum können wir jeden Punkt durch drei Koordinaten (x,y,z) eindeutig beschreiben. Der Abstand r dieses Punktes zum Ursprung lässt sich wieder mit dem Satz des Pythagoras berechnen: hier gilt r² = x² + y² + z².
Alle Punkte mit Abstand r=1 zum Ursprung bilden die Einheitssphäre. Diese besteht demnach aus allen Punkten (x,y,z) mit x² + y² + z² = 1.
Die zweidimensionale Sphäre ist der Rand der dreidimensionalen Kugel,bestehend aus allen Punkten (x,y,z) mit x² + y² + z² ≤ 1. Die Sphäre ist zweidimensional, denn von den drei Koordinaten x,y,z lassen sich auf der Sphäre nur zwei frei bewegen: um den Punkt (x,y,z) = (0,0,1) herum, zum Beispiel, können wir x,y frei bewegen und daraus bestimmt sich zwangsläufig der dritte Wert z = √(1-x²-y²).
Exkurs: Welche Form hat die Erde?
Ist die Erdoberfläche eine Scheibe oder eine Kugelfläche? Diese Frage hat eine bewegte Geschichte. Jeder gebildete Mensch glaubt heute selbstverständlich zu wissen, dass die Erde eine Kugel ist. Aber wie kam man darauf? Wie werden Vermutungen zu gesicherter Erkenntnis? Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass man lokal nicht zwischen Scheibe und Kugelfläche unterscheiden kann, denn in einer kleinen Umgebung sehen beide gleich aus. Es handelt sich um eine globale Frage. Welche Informationen braucht man zur Klärung dieser Frage?
Die Krümmung der Erdoberfläche zeigt, dass die Erde jedenfalls keine flache Scheibe ist: von nahenden Schiffen erscheint zuerst das Segel am Horizont, dann der Schiffsrumpf. Diese Beobachtung gilt seit dem Altertum als Indiz für die Kugelgestalt der Erde, wie von Aristoteles (384–322 v. Chr.) gelehrt. Dieses Argument ist zwar plausibel, aber keinesfalls zwingend: Andere gekrümmte Flächen sind denkbar, und die Kugeloberfläche ist lediglich die einfachste unter ihnen.
Eratosthenes (276–194 v. Chr.) berechnete erstmals den Umfang der Erde aus der gemessenen Krümmung und dem Abstand zwischen den ägyptischen Städten Alexandria und Assuan. Dies war allerdings nur möglich, weil er bereits von der Kugelform der Erde überzeugt war. Kritisch betrachtet beruht seine Rechnung neben der lokalen Messung (innerhalb Ägyptens) vor allem auf der globalen Annahme, dass die Erde eine Kugel und die Krümmung überall gleich ist. Auch das ist zunächst nur plausibel aber nicht zwingend.
Die erste Weltumseglung widerlegt zwar die Scheibentheorie, beweist aber ebenfalls noch nicht die Kugelgestalt der Erde! Andere Formen sind denkbar, zum Beispiel kann man auch den Torus umrunden. Diese fiktive Geographie ist übrigens bei Computerspielen sehr beliebt: Wenn man das rechteckige Spielfeld am Rand verlässt tritt man am gegenüberliegenden Rand wieder ein. Pac-Man lebt auf dem Torus!
Was zeichnet die zweidimensionale Sphäre aus?
Aus dem Exkurs über die Kugelgestalt der Erde abstrahieren wir eine mathematische Frage: Wie kann ein Bewohner einer geschlossenen Fläche sicher sein, dass er auf einer Kugelfläche lebt? Anders gesagt: Was zeichnet die Sphäre unter allen Flächen aus?
Das folgende Bild zeigt eine einfache aber fundamentale Beobachtung: Wenn ein Bewohner der Kugelfläche ein unendlich dehnbares Gummiband um seine Welt spannt, so kann er es immer auf einen Punkt zusammenschnurren lassen. Andere Flächen, wie zum Beispiel der Torus, haben diese Eigenschaft nicht: Hier lässt sich das Gummiband so spannen, dass es ein Loch umrundet und sich nicht zusammenziehen lässt.
Auf der Sphäre lässt sich jede geschlossene Kurve kontinuierlich zu einem Punkt zusammenziehen. Einen Raum mit dieser Eigenschaft nennen Mathematiker einfach-zusammenhängend. In unserer obigen Liste der Flächen ist nur die Sphäre einfach-zusammenhängend. Da unsere Liste vollständig ist, charakterisiert diese Eigenschaft also die Sphäre unter allen geschlossenen Flächen. Anders gesagt:
Wenn ein zweidimensionaler geschlossener Raum einfach-zusammenhängend ist,
dann ist dieser Raum topologisch identisch mit der zweidimensionalen Sphäre.
Damit haben wir eine topologische Charakterisierung der zweidimensionalen Sphäre gefunden. Poincaré vermutete, dass es sich in drei Dimensionen genauso verhält. Um diese Vermutung etwas genauer formulieren zu können, müssen wir noch klären, was eine dreidimensionale Sphäre sein soll.
Was ist ein dreidimensionaler Raum?
Wagen wir nun den kühnen Schritt von zwei nach drei Dimensionen.
Zur Erinnerung: eine Fläche ist ein zweidimensionaler Raum, denn sie lässt sich lokal durch zwei Koordinaten beschreiben. (Um die Position eines Fahrzeugs auf der Erdoberfläche zu bestimmen, nutzt man zum Beispiel Breiten- und Längengrad.) Wir haben oben gesehen, dass diese lokale Beschreibung noch viele Möglichkeiten für die globale Gestalt einer Fläche lässt.
Analog hierzu lässt sich ein dreidimensionaler Raum lokal durch drei Koordinaten beschreiben. (Um die Position eines Satelliten zu bestimmen, nutzt man zum Beispiel Breiten- und Längengrad sowie die Höhe über der Erde.) Auch hier gilt, dass diese Beschreibung zunächst nur lokal ist und noch viele Möglichkeiten für die globale Gestalt lässt.
Ein dreidimensionaler Raum ist im Kleinen also denkbar einfach. Als Ganzes lässt er sich im Allgemeinen leider nicht durch so einfache Bilder darstellen, wie dies bei Flächen der Fall war. Das ist aber kein objektiv-mathematisches Problem sondern ein subjektiv-psychologisches. Wir können Flächen, wie oben geschehen, in den dreidimensionalen Anschauungsraum einbetten; das geht in höheren Dimensionen ebenso, nur versagt hier unsere Anschauung.
Dennoch sind dreidimensionale Räume mathematisch gesehen genauso real wie ihre niedrigdimensionalen Geschwister. Die Tatsache, dass man sie schlecht zeichnen kann, ist dabei nebensächlich: es reicht, mit ihren Koordinaten zu rechnen. „Denn was man Schwarz auf Weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“ Es wird Zeit, dies mit einem konkreten Beispiel zu untermauern: der dreidimensionalen Sphäre.
Was ist die dreidimensionale Sphäre?
Sie ahnen es bereits: Ebenso wie es eine zweidimensionale Sphäre gibt, die die dreidimensionale Kugel berandet, existiert auch eine dreidimensionale Sphäre, die die vierdimensionale Kugel berandet. (Wenn Ihnen das beim ersten Mal Kopfschmerzen bereitet, seien Sie unbesorgt: das ist normal. Bei zu starkem Schwindelgefühl können Sie den Rest dieses Abschnitts auch überspringen.)
Um alle Zweifel zu beseitigen, brauchen wir eine präzise Definition. Im vierdimensionalen Raum können wir jeden Punkt durch vier Koordinaten (x,y,z,w) beschreiben. Versuchen Sie nicht allzu krampfhaft, sich das bildlich vorzustellen, ich glaube es ist unmöglich. Bilder zeichnen kann auch ich Ihnen hierzu nicht, aber rechnen können wir mit diesen Koordinaten ganz wie zuvor:
Für den Abstand r des Punktes (x,y,z,w) zum Ursprung gilt r² = x²+y²+z²+w². Die dreidimensionale Sphäre besteht aus allen Punkten (x,y,z,w), die die Gleichung x²+y²+z²+w² = 1 erfüllen. Sie ist der dreidimensionale Rand der vierdimensionalen Kugel. Letztere besteht aus allen Punkten (x,y,z,w) mit x²+y²+z²+w² ≤ 1.
Warum nennen wir diese Sphäre dreidimensional? Von den vier Koordinaten (x,y,z,w) lassen sich auf der Sphäre nur drei frei bewegen: um den Punkt (x,y,z,w) = (0,0,0,1) herum, zum Beispiel, können wir x,y,z frei bewegen und daraus bestimmt sich zwangsläufig der vierte Wert w = √(1-x²-y²-z²).
Neben der dreidimensionalen Sphäre gibt es noch eine Vielzahl weiterer dreidimensionaler Räume, und die Mathematiker haben Werkzeuge entwickelt, um mit solchen abstrakten Objekten umzugehen. Anders als bei Flächen kennt man bislang aber noch keine vollständige Liste aller dreidimensionalen Räume.
Exkurs: Welche Form hat unser Universum?
Bewährt hat sich die Theorie der dreidimensionalen Räume weil sie sich in den verschiedensten Situationen erfolgreich anwenden lassen, zum Beispiel in der Physik.
Kosmologen beschäftigen sich mit den Eigenschaften unseres Universums, zum Beispiel der globalen Form des Universums, gerade so wie unsere Vorfahren über die Form der Erde spekulierten und scharfsinnige Beobachtungen anstellten. Die Aussicht auf eine „Weltumseglung“ besteht für Kosmologen allerdings nicht: Sie müssen passiv beobachten und sind auf die uns erreichende Strahlung angewiesen.
Nach allem was wir wissen hat unser Universum keinen Rand. Zudem vermuten manche Kosmologen, dass es endlich ist. Es handelt sich demnach um einen geschlossenen dreidimensionalen Raum. Hier wäre die dreidimensionale Sphäre das einfachste Modell, aber viele andere Räume sind denkbar. (In den letzten Jahren wurde zum Beispiel die Theorie vorgebracht, das Universum sei ein Dodekaeder-Raum, eine weitere Erfindung Poincarés.) Wie immer in den Naturwissenschaften kann letztlich nur die Beobachtung entscheiden.
Die mathematische Beschäftigung mit Räumen in drei (und mehr) Dimensionen ist hingegen theoretischer Natur. Sie ist dabei keineswegs nur Spielerei, sondern ergibt sich aus der Beobachtung der uns umgebenden Welt und dem Versuch, diese zu verstehen und durch theoretische Modelle möglichst genau zu beschreiben.
Poincaré hat am Ende des 19. Jahrhunderts aus mathematischen Überlegungen heraus damit begonnen, dreidimensionale Räume systematisch zu untersuchen. Seine wissenschaftlichen Interessen waren jedoch sehr vielfältig: Er war nicht nur Mathematiker sondern auch Physiker und einer der Mitbegründer der Relativitätstheorie. Letztere nimmt zu drei Raumdimensionen noch eine Zeitdimension hinzu und arbeitet ganz ungeniert mit vierdimensionalen Räumen. (Wie einfach und vertraut erscheinen uns in diesem Licht plötzlich die dreidimensionalen Räume... ;-)
Die Poincaré-Vermutung
Poincaré äußerte 1904 die Vermutung, dass unter allen dreidimensionalen Räumen nur die Sphäre einfach-zusammenhängend ist. Das ist die berühmte Poincaré-Vermutung.
Mit den obigen Vorbereitungen können wir nun die Poincaré-Vermutung in wenigen Worten zusammenfassen — allerdings stecken in jedem dieser Wörter weit über 100 Jahre mathematischer Erfahrung, ohne präzise Begriffe geht es nunmal nicht:
Wenn ein dreidimensionaler geschlossener Raum einfach-zusammenhängend ist,
dann ist dieser Raum topologisch identisch mit der dreidimensionalen Sphäre.
Zur Erinnerung: dreidimensional bedeutet, dass sich der betrachtete Raum in jeder kleinen Umgebung durch drei Koordinaten beschreiben lässt. Geschlossen heißt endlich und randlos. Einfach-zusammenhängend bedeutet, dass sich jede geschlossene Kurve kontinuierlich zu einem Punkt zusammenziehen lässt. Die dreidimensionale Sphäre erfüllt offenbar alle diese Bedingungen, und Poincaré vermutete, dass sie allein durch diese Eigenschaften charakterisiert wird.
Anders als für Flächen in Dimension 2 hat sich diese Vermutung in Dimension 3 als überaus schwierig erwiesen. Dreidimensionale Räume sind eine große Herausforderung an die Vorstellungskraft, und auch an den Erfindungsreichtum der Mathematiker. Zahlreiche Lösungsversuche sind im Laufe des 20. Jahrhunderts veröffentlicht worden, darunter viele von hervorragenden Mathematikern. Kein Beweisversuch hielt der genauen Prüfung stand. Erst hundert Jahre nach Poincaré konnte Perelman einen hieb- und stichfesten Beweis vorlegen, dass Poincaré mit seiner Vermutung richtig lag.
Damit ist die Poincaré-Vermutung zu einem mathematischen Satz geworden.
Die Beweis-Idee
Perelman benutzt in seinem Beweis auf geniale Weise die Idee der Krümmung. Bei Flächen spielt die Krümmung offensichtlich eine Rolle, wie oben schon angemerkt, und auch in drei Dimensionen hat sich diese Idee als wichtiges Hilfsmittel erwiesen.
Durch Perelmans revolutionäre Ergebnisse ist die geometrische Klassifikation aller dreidimensionalen Räume in greifbare Nähe gerückt, wie sie durch William Thurston seit den 1970er Jahren unternommen wurde. Aufbauend auf Arbeiten von Richard Hamilton aus den 1980er Jahren, hat Perelman neue Techniken entwickelt, mit denen sich die Krümmung dieser Räumen kontrollieren und geschickt modifizieren lässt.
Zur Illustration hier eine Skizze in Dimension 2:
Vereinfacht gesagt, man repariert extreme Beulen und bringt so den Raum in eine möglichst runde Gestalt. Wenn er schließlich ebenso gleichmäßig gekrümmt ist wie die Sphäre, dann ist er auch topologisch eine Sphäre. Die genaue Ausarbeitung dieser genial einfachen Idee ist – auch für Mathematiker – schwierig. Doch das Ergebnis rechtfertigt alle Mühen, und Perelmans bahnbrechende Ideen werden wohl auch in hundert Jahren noch Bewunderung auslösen.
Links zum Thema
Einige frühe Berichte deutschsprachiger Medien:
- Annette Leßmöllmann: Mathe mit Lasso (Die Zeit 24.04.2003)
- George Szpiro: Ist die Poincaré-Vermutung bewiesen? (NZZ 21.05.2003)
- Andreas Stiller: Wer wird Millionär? – bei der Poincaré-Vermutung (Heise 03.01.2004)
- Mathematik – Ein Wunder weniger (Stern 08.01.2004)
- Eines der grössten Rätsel der Mathematik möglicherweise gelöst (NZZ 08.01.2004)
- Annick Eimer: Jahrhundert-Problem gelöst (Spiegel 08.09.2004)
Einen ersten Höhepunkt erreichte die Berichterstattung zur Verleihung der Fields-Medaille im August 2006:
- George Szpiro: Genialer Einsiedler (NZZ 23.07.2006)
- Jan Lublinski: Rätsel um Mathematik (Deutschlandfunk 03.08.2006)
- Hubert Kahl: Eine-Million-Dollar-Rätsel womöglich geknackt (Stern 22.08.2006)
- Holger Dambeck: Einsiedler verschmäht Mathe-Medaille (Spiegel 22.08.2006)
- Perelman brüskiert 5000 Kollegen (Focus 22.08.2006)
- George Szpiro: Verleihung der Fields-Medaillen in Madrid (NZZ 23.08.2006)
- Christoph Drösser: Jahrhunderträtsel (Die Zeit 24.8.2006)
- Ulrich Schnabel: Das verschwundene Genie (Die Zeit 24.08.2006)
- Genialer Russe sorgt für Skandal (Stern 24.08.2006)
- George Szpiro: Eitler Streit unter Mathematikern (NZZ 01.10.2006)
- Barbara Abrell: Jahresrückblick – Die Top Ten der Forschung (Focus 22.12.2006)
- Jan Lublinski: Die Perelman-Vermutung (SWR2 Wissen 31.03.2008)
- Alexander Benra: Das mathematische Genie Perelman (suite101.de 01.04.2008)
Ein starkes Echo löste ebenfalls der Milleniums-Preis im März 2010 aus:
- Holger Dambeck: Jahrtausend-Problem gelöst (Spiegel 22.03.2010)
- Mathe-Genie lehnt eine Million Dollar Preisgeld ab (Bild 24.03.2010)
- Mathe-Genie lehnt Millionen-Preisgeld ab (Merkur 25.03.2010)
- Angelika Pickardt: Mathe-Genie bewies die Poincaré-Vermutung (Bild 26.03.2010)
Lesens- und hörenswerte Berichte ausländischer Medien:
- Sylvia Nasar, David Gruber: Manifold Destiny (The New Yorker 28.08.2006); dieser Hintergrundbericht führte zur Kontroverse mit Professor Shing-Tung Yau.
- The Poincaré Conjecture (BBC Radio 02.11.2006) mit June Barrow-Green (Open University), Ian Stewart (Warwick), Marcus du Sautoy (Oxford)
Populärwissenschaftliche Bücher:
- Donald O'Shea: Poincarés Vermutung. S. Fischer, Frankfurt 2007.
- George Szpiro: Das Poincaré-Abenteuer. Piper, München 2008.
- Keith Devlin: The Millennium Problems. Basic Books 2002.
Weiterführende Links zur Mathematik:
- Jos Leys, Étienne Ghys, Aurélien Alvarez: Dimensions (einführendes Video)
- Wikipedia: Poincaré-Vermutung und Geometrisierung von 3-Mannigfaltigkeiten.
- Eric W. Weisstein: Poincaré Conjecture (kurzer Artikel in MathWorld)
- Beschreibung der Poincaré-Vermutung am Clay Mathematics Institute.
- Bernhard Leeb: Zu Perelmans Beweis (Übersichtsartikel für die DMV)