[banner] Michael Eisermann

C'est par la logique que l'on prouve
et par l'intuition que l'on découvre.

— Mit der Logik beweisen wir,
mit der Intuition entdecken wir.
Henri Poincaré (1854–1912)

Algebraische Topologie

Do what you love. Love what you do.

Vorlesung im Wintersemester 2022/23 und Sommersemester 2023.

Auf dieser Seite finden Sie:

Rückmeldungen? Ich freue mich über Ihre Kommentare und Anregungen! Bitte lassen Sie mich wissen, wie Ihnen die Veranstaltung gefällt, wie Sie mit dem Stoff zurecht kommen, und was sich verbessern lässt.

A child’s first geometrical discoveries are topological. —
If you ask him to copy a square or a triangle,
he draws a closed circle.

Jean Piaget (1896–1980)

Aktuelles

Alles Organisatorische finden Sie in unserem Ilias-Kurs zur AT1 und AT2.

Vorlesung Mi 9:45 - 11:15 Raum V57-7.530
Übung/Vorlesung Mi 11:30 - 13:00 Raum V57-7.530
Vorlesung Fr 11:30 - 13:00 Raum V57-7.530

Einleitung und Motivation

Point set topology is a disease from which
the human race will soon recover.

Henri Poincaré (1854–1912)

TL;DR: Diese Veranstaltung gehört zur angewandten Mathematik. Meist wenden wir lineare Algebra erfreulich effizient an auf konkrete geometrisch-topologische Beispiele.

Was ist Algebraische Topologie?

Die Algebraische Topologie untersucht topologische Räume und stetige Abbildungen mit algebraischen Hilfsmitteln. Den Räumen werden Gruppen zugeordnet (und weitere algebraische Strukturen, zum Beispiel graduierte Moduln oder Algebren) und den Abbildungen werden Homomorphismen zugeordnet. So entsteht ein algebraisches Abbild des ursprünglich topologischen Sachverhalts. Oft ist das algebraische Abbild leichter zu verstehen und erlaubt so eine Lösung des topologischen Problems. In günstigen Fällen funktioniert die Übersetzung auch umgekehrt, und die Topologie erleuchtet die Algebra.

Fundamentalgruppe und Überlagerungen

Ein typisches Beispiel ist die allgegenwärtige Fundamentalgruppe und das hierzu duale Konzept der Überlagerung. Beide sind geometrisch unmittelbar zugänglich und erlauben eine algebraische Sichtweise auf topologische Räume. Aus der Grundvorlesung Topologie kennen Sie die Umlaufzahl; für die Kreislinie ist dies dieselbe Information.

Erste Anwendungen sind der Brouwersche Fixpunktsatz (zunächst in Dimension 2), der Jordan-Brouwersche Zerlegungssatz (zunächst in der Ebene), die Invarianz der Dimension (zunächst bis Dimension 2). Diese Aussagen gelten auch in höherer Dimension, die Fundamentalgruppe allein reicht hierzu allerdings nicht aus und muss zu höherdimensionalen Werkzeugen ausgebaut werden.

Homotopiegruppen und Faserungen

Die Fundamentalgruppe ist die erste Homotopiegruppe. Wir werden diese Konstruktion zu höheren Homotopiegruppen verallgemeinern. Dual hierzu werden wir den Begriff der Überlagerung zu Faserbündeln verallgemeinern; den noch flexibleren Begriff der Faserung werden wir dabei ebenfalls kennenlernen. Diese Objekte spielen auch in der Differentialgeometrie eine wichtige Rolle, vor allem als Tangentialbündel einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit.

Homotopiegruppen sind wichtige und mächtige Werkzeuge: Sie erklären, was die (topologische) Welt im Innersten zusammenhält (Satz von Whitehead). Sie sind allerdings notorisch schwer zu berechnen, dazu brauchen wir weitere Werkzeuge...

Homologie und Kohomologie

Zwecks leichterer Berechenbarkeit werden wir Homologiegruppen einführen und in einigen wichtigen Beispielen berechnen. Diese erfreuen sich besonderer struktureller Eigenschaften: Homotopieinvarianz, lange exakte Homologiesequenz, Additivität, Ausschneidung. Diese kann man als Axiome für die Homologie nutzen und zur konkreten Berechnung anwenden auf zelluläre Homologie, Mayer-Vietoris-Sequenz, Künneth-Formel... Den Bezug zu Homotopie-Gruppen stiftet der Satz von Hurewicz.

Dual zur Homologie ist die Kohomologie. Anders als die Homologie trägt sie ein natürliches und überaus nützliches Produkt, das sogenannte Cup-Produkt. So können wir jedem topologischen Raum seinen Kohomologiering zuordnen, der wesentliche geometrisch-topologische Eigenschaften in algebraische Eigenschaften übersetzt. Die Homologie erweist sich als Modul über dem Kohomologiering, dank Cap-Produkt. Für orientierte Mannigfaltigkeiten beweisen wir so schließlich die Poincaré-Dualität.

Warnhinweise

An der Topologie, insbesondere der Algebraischen Topologie, scheiden sich die Geister: Die einen halten sie für schwer zugänglich und schwindelerregend abstrakt. Die anderen finden sie außerdem noch elegant und schön.

In these days the angel of topology and the devil of abstract algebra
fight for the soul of every individual discipline of mathematics.

Hermann Weyl (1885–1955)

Zielsetzung der Vorlesung

Die Vorlesung baut auf dem Grundstudium der Algebra und der Topologie auf und vermittelt die Grundlagen der Algebraischen Topologie: Fundamentalgruppe und Überlagerungen, Homotopiegruppen und Faserbündel, Homologie und Kohomologie, Orientierung von Mannigfaltigkeiten und Poincaré-Dualität. Diese Themen erstrecken sich über zwei Semester. Ziel sind dabei immer zwei komplementäre Kompetenzen: das Verständnis sowohl konkreter Anwendungen als auch der allgemeinen Theorie. Das eine ist ohne das andere kaum denkbar.

Zitat aus dem Modulhandbuch: Die Studenten erlernen die Grundlagen der Algebraischen Topologie. Sie sind in der Lage, die behandelten Methoden selbstständig, sicher, kritisch, korrekt und kreativ anzuwenden. — Als Sidequest, kommen Sie gut vorbereitet, gut ausgeschlafen und gut gefrühstückt; erfüllen Sie mindestens zwei von drei!

Der Gerechte muss viel leiden.
Psalm 34:19

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Literatur

Es gibt wahnsinnig viele Lehrbücher zur Algebraischen Topologie, das ganze Spektrum, von knapp und steil zu einführend und leicht lesbar. Eine kleine Auswahl:

Jedes dieser Lehrbücher hat seine eigenen Vorzüge und betont etwas andere Motivationen, Sichtweisen und Schwerpunkte: Das Spektrum reicht von geometrisch-topologisch bis formal-algebraisch, von knapp-elegant bis ausführlich illustriert. Sie sollten daher in möglichst vielen Büchern schmökern, um sich einen Überblick zu verschaffen und Ihr Lieblingsbuch zu finden.

Eine detaillierte Darstellung aus historischer Perspektive bieten:

Ich möchte dem wundervollen Buch von Hatcher folgen, das gelingt mir aller Erfahrung nach aber meistens nicht. Es ist schön geschrieben, umfasst viel Stoff und ist eine gute langfristige Investition. (Ich werde mir nicht verkneifen können, meinen Senf dazuzugeben; lokal hängt der Verlauf auch von Ihren Reaktionen und Fragen ab.) Das Buch ist elektronisch frei erhältlich, und man kann es auch gedruckt günstig kaufen — über 500 Seiten für etwa 40 Euro.

Organisation der Vorlesung

Voraussetzungen

Inhaltliche Voraussetzung sind Topologie und Algebra. Aus der Algebra verwenden wir die Grundbegriffe der Gruppen, Ringe, Moduln und ihrer Homomorphismen. Aus der Topologie benötigen wir neben der allgemeinen Topologie vor allem als Beispielfundus Simplizialkomplexe und die Klassifikation der Flächen. (Fundamentalgruppe und Überlagerungen hatten letzten Sommer keinen Platz, damit fange ich im Winter an.) Aus der Analysis bzw. Geometrie sind (Unter)Mannigfaltigkeiten und Tangentialbündel hilfreich, denn diese sind eine wichtige Beispielklasse interessanter topologischer Räume.

Allgemeine Voraussetzung: Jede ernsthafte Beschäftigung mit Mathematik erfordert zunächst einmal Interesse, Neugier und Offenheit für Probleme und sodann Kreativität, Sorgfalt und Hartnäckigkeit bei deren Lösung. Da dies eine vertiefende Vorlesung ist, wird die (schwer definierbare und nur indirekt lehrbare) Eigenschaft der mathematischen Reife vorausgesetzt. Ein jeder prüfe sich selbst. Oder Sie versuchen es einfach!

Saat und Ernte: Diese Veranstaltung wiegt 9 Leistungspunkte (ECTS). Das entspricht 270 Arbeitsstunden, hier also wöchentlich 4 Stunden Vorlesung plus 2 Stunden Übung plus 10 Stunden eigene Arbeit (Nach- und Vorbereitung) sowie circa eine Woche Prüfungsvorbereitung. Your milage may vary. Es gilt die Erhaltung der Arbeit. Sie wissen inzwischen wie's geht, studieren Sie richtig!

Non quia difficilia sunt non audemus,
sed quia non audemus difficilia sunt.

— Nicht weil es schwierig ist, wagen wir es nicht,
sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwierig.
Seneca, Moralische Briefe an Lucilius

Themen

Themen der Vorlesungen Algebraische Topologie 1 und 2:

The traditional mathematics professor
of the popular legend is absentminded. (...)
He writes a, he says b, he means c; but it should be d.

George Pólya (1887–1985), How to solve it