If you want to know about people,
you dont just look at them individually
— you look at them at a family reunion.
Angela Gibney, The New Yorker
Seminar zu Kategorien
Auf dezidierte Nachfrage von Studierenden aus meiner Topologie-Vorlesung im SoSe 2022 organisiere ich im WiSe 2022/23 ein Seminar zur Kategorientheorie. Auf dieser öffentlichen Webseite finden Sie die Literatur und eine allgemeine Darstellung. Alles Organisatorische finden Sie in unserem Ilias-Kurs.
Update nach dem Seminar. Gespräche mit Teilnehmer:innen im Folgesemester zeigen erfreuliche und erstaunliche Erkenntnisse: Wider alle Erwartungen, Kategorien haben Anwendungen! Wer die Sprache der Kategorien beherrscht, kann diese Struktur überall erkennen und gewinnbringend nutzen, natürlich in der Mathematik, und sogar in der Informatik und der Physik. Die eine oder der andere ist jetzt enttäuscht, vielleicht sogar beide. Versprochen wurde ein wunderschönes Thema allein um seiner Eleganz und der Erkenntnis willen, reine Mathematik garantiert ohne Anwendungszwang, pour l'honneur de l'esprit humain. Nun stellt sich heraus, dass selbst die Kategorientheorie im mathematischen Alltag durchaus nutzbringend eingesetzt wird, zwar nicht muss, aber doch kann. Wir üben uns in Toleranz und trösten uns, auch dieser Kollateralnutzen ist willkommen!
Kategorien
This concept of category is an omni-purpose affair. (...)
It frames a possible template for any mathematical theory:
the theory should have nouns and verbs, i.e., objects and morphisms,
and there should be an explicit notion of composition related to the morphisms;
the theory should, in brief, be packaged by a category.
There is hardly any species of mathematical object
that doesn’t fit into this convenient, and often enlightening, template.
Barry Mazur,
When is one thing equal to another thing?
Die Sprache der Kategorien hilft uns, häufig wiederkehrende mathematische Strukturen und Argumente effizient zu formulieren und prägnant zu kommunizieren. Dies ist das Ziel jeder hochentwickelten Sprache: Sie ermöglicht uns, verschiedene Phänomene einheitlich zu beschreiben, Analogien zu erkennen und strukturelle Gemeinsamkeiten zu erfassen. Die Kategorientheorie ist in diesem Sinne die Grammatik dieser Sprache, damit können wir nicht nur Kategorien auf konkrete Beispiele anwenden, sondern auch allgemeine Aussagen und Konstruktionen für Kategorien und Funktoren formulieren und beweisen.
Hier sind zwei amüsante und doch lehrreiche Videos zur Einführung:
A coconut is just a nut.
Aktuelles zum Seminar
Das Seminar war erleuchtend, gehet hin in alle Welt und verkündet die Adjunktion! Diese Seite wird nicht mehr regelmäßig aktualisiert; sie wird aber noch längere Zeit zugänglich bleiben, um als Archiv zu dienen. Zur Übersicht: aktuelle und vergangene Lehrveranstaltungen
Was ich mir wünsche: gemeinsam erfolgreich lernen!
Dies ist keine lästige Pflichtveranstaltung, sondern die wunderbare Gelegenheit, Mathematik zu lernen und anderen zu erklären. Learning by teaching. Sie bringen Freude an der Mathematik mit, konkret und abstrakt, sowie den unbändigen Willen, anderen mit Ihrem Vortrag schöne und anspruchsvolle Themen zu vermitteln. Das ist extrem schwer, wie Sie selbst in jeder Vorlesung erkennen können, doch die Investition lohnt sich, ein Leben lang! Ein gutes Seminar kann Sie über Jahre prägen und inspirieren. Ich spreche aus Erfahrung: Mein Werdegang wurde entschieden durch die Vorträge, die ich gehalten habe.
Die dunkle Seite: Ein schlechtes Seminar ist leider ebenso traumatisierend – für alle Teilnehmer:innen, auch für mich! Ersparen Sie sich und mir und allen die übliche Tragödie: Nur der:die Vortragende lernt etwas, gerade genug für einen lausigen Vortrag, und damit foltert er:sie alle anderen als Geiseln. Vielleicht empfinden ja manche ihre Vorlesungen genau so, denken dieses sinnlose Leiden sei im Studium völlig normal und wollen sich mit ihrem Seminarvortrag an der Welt rächen... Nein!!! Sie wollen es besser machen! Sie werden es besser machen.
Als Zuhörende haben Sie gut geplante und geübte Vorträge verdient, als Vortragende haben Sie die höchsten Ansprüche an Ihre Präsentation. Nochmal: Dies ist keine lästige Pflichtveranstaltung, sondern die wunderbare Gelegenheit, Mathematik zu lernen und anderen zu erklären.
Ihre brennende Frage lautet: Passt das Thema zu mir?
Zum Glück gibt es hierzu einen einfachen Test: Lesen Sie die Einleitung von Leinster (Seite 1 bis 8), er schließt sogar mit schönen Übungen, die Sie unbedingt versuchen sollten. Wenn Sie dabei wohlige Schauer des "Aha" und des "Achso" erleben, dann kann das Thema Sie begeistern. Andernfalls würde ich vermuten, dass Sie für diesen Schritt noch nicht bereit sind, oder er für Sie in die falsche Richtung geht. Erkenne dich selbst!
Alles Organisatorische finden Sie in unserem Ilias-Kurs.
Literatur: eine kurze Auswahl
Es gibt einige schöne Bücher zu Kategorien, hier eine gute Auswahl.
- Tom Leinster: Basic Category Theory (2014), online frei erhältlich
- Saunders MacLane: Categories for the Working Mathematician (1998)
- Emily Riehl: Category Theory in Context (2014)
Bewährter Kompromiss: Wir folgen dem Buch von Leinster, wo sinnvoll präzisiert durch den Klassiker von MacLane und ergänzt durch schöne Beispiele aus dem Werk von Riehl.
Drei Einführungen mit Blick zur funktionalen Programmierung:
- Steve Awodey: Category Theory (2010)
- Bartosz Milewski: Category Theory for Programmers (2019)
- Michael Barr, Charles Wells: Category Theory for Computer Science (1998)
Die community-basierte Version ist The nLab: eine kollaborative Online-Referenz auf Forschungsniveau. Das sollten Sie mal gesehen haben, sehr beeindruckend und auch recht nerdig, auf eine gute Art.
Erläuterung zur Literaturauswahl
Alle Bücher und Kurse über Kategorientheorie behandeln mindestens den harten Kern: Kategorien, Funktoren, Transformationen, Äquivalenz, Co/Limites, Darstellung, Yoneda Lemma, Adjunktion. Sie gründen jedoch auf unterschiedlich viel mathematisch-kulturellen Voraussetzungen und bieten verschiedene Ergänzungen: Je mehr Mathematik Sie bereits kennen, desto mehr Struktur können Sie hier wiedererkennen und illustrative Beispiele genießen.
Ich suche noch den idealen Kompromiss für dieses Seminar, vermutlich müssen wir den gemeinsam ausloten. Das schöne Buch von Leinster ist einfach zugänglich und vor allem kurz – manchmal auch einfach zu kurz. Als Student habe ich das Thema aus Saunders MacLane gelernt, das ist allerdings deutlich dichter geschrieben und im ersten Anlauf nicht leicht zugänglich. Nach dem Seminar jedoch ist es für Sie die beste Referenz.
Das Buch von Riehl setzt mehr mathematischen Hintergrund voraus als Leinster, mit wohlüberlegter didaktischer Begründung: „The text that follows is littered with examples drawn from a broad range of mathematical areas. The examples are included for color or historical context but are never essential for understanding the abstract category theory. In principle, one could study category theory immediately after learning some basic set theory and logic, as no other prerequisites are strictly required, but without some level of mathematical maturity it would be difficult to see what the point of it all is. We hope that the majority of examples are comprehensible in outline, even if the details are unfamiliar.“ Genau so ist es!
Das Buch von Awodey setzt wenig mathematischen Hintergrund voraus, ähnlich wie Leinster, nimmt jedoch explizit die theoretische Informatik und konstruktive Mathematik in den Blick. „As researchers in Computer Science or Logic, many will need to be familiar with the basic notions of Category Theory, without the benefit of much further mathematical training. The Mathematics undergraduates are in a similar boat: mathematically talented, motivated to learn the subject by its evident relevance to their further studies, yet unable to follow MacLane because they still lack the mathematical prerequisites. Most of my students do not know what a free group is (yet), and so they are not illuminated to learn that it is an example of an adjoint.“ Auch diese Herangehensweise ist gut durchdacht.
Die Ausrichtung auf Typentheorie mit Anwendungen in Informatik und formalen Beweisen ist eine spannende Weiterentwicklung und würde viele sicher begeistern. Als Ergänzung können wir ja in der Zukunft ein Seminar über univalente Mathematik machen; sie vertritt immerhin den vollmundigen Anspruch, eine moderne Grundlage der gesamten Mathematik zu bieten.
Die Einführungen von Milewski und Barr–Wells nehmen sich explizit die Informatik zum Ziel und entwickeln die Kategorientheorie sehr schön anhand der Programmierung. Diese Verbindung gelingt erfreulich pragmatisch und erleuchtend. Das ist für manche Studierende der Mathematik vielleicht eine schöne Brücke zu konkreten Anwendungen, if you are so inclinded.