Die Kräftigung des räumlichen Vorstellungsvermögens
und der räumlichen Gestaltungskraft gehört unbestritten
zu den wichtigsten Zielen eines jeden geometrischen Unterrichts.
Arthur Schönflies (1853–1928),
Einführung in die
Hauptgesetze der zeichnerischen Darstellungsmethoden
Geometrische Topologie und Knotentheorie
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Vorlesung (Michael Eisermann) | Mo 9:45-11:15 | Raum V57-7.530 |
Vorlesung (Michael Eisermann) | Mo 14:00-15:30 | Raum V57-7.530 |
Übung (Michael Eisermann) | Di 9:45-11:15 | Raum V57-8.526 |
Zum Einstieg eine berühmte Knobelaufgabe: Sind die beiden folgenden Knoten isotop? Anders gesagt: Lassen sie sich durch eine stetige Bewegung ineinander überführen? Falls ja, so geben Sie eine solche Bewegung an, andernfalls einen Beweis ihrer Nicht-Existenz.
A B
Auf dieser Seite finden Sie:
- Einen kurzen Überblick zur Einführung und Motivation
- Ein paar Worte zu den nötigen Vorkenntnissen
- Einführende und ergänzende Literatur zum Thema
- Themen der Vorlesung und Termine im WiSe 2019
- Fragen zur Wiederholung und Vorbereitung (in Arbeit)
- Zu guter Letzt die Antwort auf das obige Rätsel
Rückmeldungen? Ich freue mich über Ihre Kommentare und Anregungen! Bitte lassen Sie mich wissen, wie Ihnen die Veranstaltung gefällt, wie Sie mit dem Stoff zurecht kommen, und was sich verbessern lässt.
Aktuelles
Einführung und Motivation
Was ist geometrische Topologie?
Die geometrische Topologie untersucht „schöne geometrische Objekte”, insbesondere Mannigfaltigkeiten, ihre Abbildungen und gegenseitigen Einbettungen. Besonders reizvoll und leicht fasslich ist diese Theorie in niedriger Dimension, wo sie spezielle Phänomene enthüllt und maßgeschneiderte Techniken nutzt. Diese Vorlesung widmet sich insbesondere Knoten und Flächen als einem zentralen Gegenstand der niedrigdimensionalen Topologie und Werkzeug zum Studium von 3-Mannigfaltigkeiten.
Tafelbild aus George K. Francis: „A Topological Picturebook”
Springer Verlag, New York 1987.
Kurven und Flächen
Eine \(n\)-dimensionale Mannigfaltigkeit ist ein topologischer Raum, der lokal homöomorph zum euklidischen Raum \(\R^n\) ist. (Wir werden zudem noch fordern, dass die Topologie hausdorffsch ist und eine abzählbare Basis der Topologie besitzt.) Als 1-dimensionale Mannigfaltigkeiten erkennen Sie unschwer die reelle Gerade \(\R^1\) und die Kreislinie \(\S^1\). Erlaubt man Mannigfaltigkeiten mit Rand, so kommen noch das abgeschlossene Intervall \([0,1]\) und das halboffene Intervall \([0,1[\) hinzu. Ein erster Klassifikationssatz besagt, dass jede zusammenhängende 1-dimensionale Mannigfaltigkeit homöomorph ist zu genau einem dieser vier Modelle.
Zu 2-Mannigfaltigkeiten kennen Sie aus Ihrer Topologie-Vorlesung einen analogen (und viel interessanteren) Klassifikationssatz für kompakte Flächen.
Man kann Kurven und Flächen nicht nur abstrakt "für sich selbst" betrachten sondern auch auf verschiedene Weisen einbetten, zunächst in den euklidischen Raum \(\R^3\) oder die Sphäre \(\S^3\), oder allgemeiner in beliebige 3-dimensionale Mannigfaltigkeiten.
Knoten
Ganz anschaulich ist ein Knoten eine Einbettung der Kreislinie im Raum. Zwei Knoten betrachten wir als äquivalent wenn sie sich durch eine stetige Bewegung (Isotopie) ineinander überführen lassen. Wie lassen sich nun solche (Äquivalenzklassen von) Knoten mathematisch untersuchen? Wie können wir zum Beispiel Knoten unterscheiden? Wie lassen sich ihre geometrischen Eigenschaften erkennen?
Neben rein geometrischen Konstruktionen bieten sich zunächst die klassischen Invarianten der algebraischen Topologie an, vor allem Fundamentalgruppe, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich auch auf Knoten angewendet wurden.
Seit den 1950er Jahren wird das Wechselspiel zwischen Knoten, Flächen und Räumen eingehend untersucht. Hierbei sind Knoten nicht nur Untersuchungsgegenstand sondern auch Werkzeug zur Konstruktion und Untersuchung von 3-Mannigfaltigkeiten.
Im Jahr 1984 hat die Entdeckung des Jones-Polynoms eine explosionsartige Entwicklung der Knotentheorie ausgelöst, die bis heute anhält. Diese hat Invarianten ganz neuen Typs hervorgebracht, zunächst die sogenannten Quanteninvarianten und in den letzten zehn Jahren sogenannte Knotenhomologien, und damit Beziehungen zu entfernt geglaubten Gebieten der Mathematik und der Physik geknüpft.
Voraussetzungen
Benötigt werden die Kenntnisse des Grundstudiums (Lineare Algebra und Analysis) und der Topologie (topologisches Grundvokabular, Fundamentalgruppe, Überlagerungen, Klassifikation kompakter Flächen).
Grundzüge der algebraischen Topologie sind nützlich, können aber nebenher erlernt werden. Hier benötigen wir vor allem die erste Homologiegruppe, und diese ist als Abelschmachung der Fundamentalgruppe unmittelbar zugänglich. (Anders gesagt, die Knotentheorie bietet einen guten Einstieg in die algebraische Topologie mittels einer Fülle anschaulicher und interessanter Anwendungsbeispiele.)
Allgemein gilt: Jede ernsthafte Beschäftigung mit Mathematik erfordert zunächst Interesse, Neugier und Offenheit für Probleme und sodann Kreativität, Sorgfalt und Hartnäckigkeit bei deren Lösung.
Literatur
Einführende Literatur zur Knotentheorie
- W.B.R. Lickorish: An Introduction to Knot Theory, Springer 1997.
- G. Burde, H. Zieschang: Knots, De Gruyter 1985.
- C. Kassel, V. Turaev: Braid Groups, Springer 2008.
- D. Rolfsen: Knots and Links, Publish or Perish 1976, AMS 2003.
Die Vorlesung folgt im Wesentlichen dem Buch von Lickorish, mit Abweichungen und Ergänzungen « selon l'humour du chef » und je nach Reaktion der Zuhörer.
Leichte aber lehrreiche Lektüre
- C.C. Adams: Das Knotenbuch, Spektrum Akademischer Verlag 1995.
- A.A. Sossinsky: Mathematik der Knoten, Rowohlt 2000.
- C. Livingston: Knotentheorie für Einsteiger, Vieweg+Teubner 1995.
Diese drei Bücher sind — auch ohne Vorlesung! — leicht zu lesen, spannend geschrieben, und — auch als Ergänzung der Vorlesung — sehr lehrreich!
Zum Vertiefen topologischer Hilfsmittel
- A. Hatcher: Algebraic Topology, C.U.P. 2002, auch online frei zugänglich.
- A. Hatcher: Notes on Basic 3-Manifold Topology, online frei zugänglich.
- E.E. Moise: Geometric Topology in Dimensions 2 and 3, Springer 1977.
- T. Bröcker, K. Jänich: Einführung in die Differentialtopologie, Springer 1990.
- M.W. Hirsch: Differential Topology, Springer 1997.
Viele (differential-)topologische Argumente sind in niedriger Dimension intuitiv glaubwürdig. Das ersetzt natürlich keinen Beweis! Es rechtfertigt aber den Kompromiss, die wenigen benötigten Hilfsmittel zunächst ohne Beweis zu zitieren und direkt anzuwenden. Die obigen Bücher lohnen allemal das Nachlesen!
Themen der Vorlesung
Einführung in Bildern und Beispielen
- Der Satz von Reidemeister und erste Invarianten
- Der Satz von Wirtinger und Knotengruppen
- Seifert-Flächen und Primzerlegung von Knoten
- Seifert-Form, Signatur und Alexander-Polynom
- Das Jones-Polynom und die Tait-Vermutungen
- Unendlich-zyklische Überlagerung und Alexander-Modul
- Darstellungen von Zopfgruppen und Invarianten von Knoten
Zu guter Letzt
Hier die Lösung der eingangs gestellten Knobelaufgabe — es handelt sich um das berühmte Perko-Paar. In den Jahren 1876–1900 erstellten Tait, Kirkman und Little in mühevoller Handarbeit die ersten Knotentabellen: Ihr Ziel war es, eine vollständige und redundanzfreie Liste aller Primknoten bis 10 Kreuzungen zu erstellen.
Seither glaubte man, dass die beiden fraglichen Knoten \(A\) und \(B\) verschieden sind, da es niemandem gelungen war, sie ineinander zu überführen. (Auch ist der Drall, d.h. die Summe der Kreuzungsvorzeichen, der beiden Diagramme verschieden, und man nahm zunächst an, dieser sei eine Invariante.) Bis in die 1970er Jahre wurden die beiden Diagramme daher in allen Knotentabellen und Lehrbüchern als verschieden aufgeführt. Einen Beweis für \(A \ne B\) hatte man allerdings nicht finden können...
A B
1974 entdeckte der New-Yorker Rechtsanwalt und Topologe Kenneth Perko, dass es sich um isotope Darstellungen desselben Knotentyps handelt! (Diese überraschende Entdeckung war Teil seiner viel umfangreicheren mathematischen Arbeit, mit der er die Klassifikation der Knoten bis zehn Kreuzungen vollendete.)
Als Beweis für A=B genügt es, eine Isotopie zu finden.
Hier ist eine solche Deformation in 16 Bildern:
Übung: Schreiben Sie dies Schritt für Schritt als Reidemeisterzüge aus. Wie viele benötigen Sie? All diese schönen Grafiken stammen aus Bob Schareins KnotPlot. Einen geschichtlichen Überblick gibt William Menascos Circular History of Knot Theory. Historische Quellen wurden von Andrew Ranicki auf seiner Seite History of knot theory zusammengetragen. Zum Stand nach 100 Jahren Knotentabellierung siehe den Artikel von Hoste, Thistlethwaite, Weeks: The first 1,701,936 knots.
Perkos Beispiel lehrt, dass anschauliche oder empirische Argumente auch täuschen können. Glücklicherweise erlaubt die Entwicklung von immer feineren Invarianten, Knoten zu unterscheiden und solcherart Ungewissheiten zu beseitigen. Nach Perkos abschließender Korrektur ist Littles Knotentabelle bis 10 Kreuzungen tatsächlich redundanzfrei.