Michael Eisermann
Die Kräftigung des räumlichen Vorstellungsvermögens
und der räumlichen Gestaltungskraft gehört unbestritten
zu den wichtigsten Zielen eines jeden geometrischen Unterrichts.
Arthur Schönflies (1853–1928),
Einführung in die
Hauptgesetze der zeichnerischen Darstellungsmethoden
Geometrische Topologie und Knotentheorie
Vorlesung im Sommersemester 2013 (Veranstaltung 01490, Modul 34580).
Vorlesung (Michael Eisermann) | Mi 11:30-13:00 | Raum V57-7.331 |
Do 14:00-15:30 | Raum V57-7.527 | |
Übung (Michael Eisermann) | Fr 9:45-11:15 | Raum V57-7.527 |
Zum Einstieg eine berühmte Knobelaufgabe: Sind die beiden folgenden Knoten isotop? Anders gesagt: Lassen sie sich durch eine stetige Bewegung ineinander überführen? Falls ja, so gebe man eine Bewegung an, andernfalls einen Beweis ihrer Nicht-Existenz.
A B
Auf dieser Seite finden Sie:
- Einen kurzen Überblick zur Einführung und Motivation
- Ein paar Worte zu den nötigen Vorkenntnissen
- Einführende und ergänzende Literatur zum Thema
- Themen der Vorlesung und Termine im SoSe 2013
- Zu guter Letzt die Antwort auf das obige Rätsel
Rückmeldungen? Ich freue mich über Ihre Kommentare und Anregungen! Bitte lassen Sie mich wissen, wie Ihnen die Veranstaltung gefällt, wie Sie mit dem Stoff zurecht kommen, und was sich verbessern lässt.
Aktuelles
Diese Seite wird nicht mehr regelmäßig aktualisiert; sie wird aber noch längere Zeit zugänglich bleiben, um als Archiv zu dienen. Zur Übersicht: aktuelle und vergangene Lehrveranstaltungen
Einführung und Motivation
Was ist geometrische Topologie?
Die geometrische Topologie untersucht Mannigfaltigkeiten und ihre Abbildungen, insbesondere Einbettungen. Besonders reizvoll und leicht fasslich ist diese Theorie in niedriger Dimension, wo sie spezielle Phänomene enthüllt und maßgeschneiderte Techniken nutzt. Diese Vorlesung widmet sich insbesondere Knoten und Flächen als einem zentralen Gegenstand der 3-dimensionalen Topologie und Werkzeug zum Studium von 3-Mannigfaltigkeiten.
Tafelbild aus George K. Francis: „A Topological Picturebook”
Springer Verlag, New York 1987.
Kurven und Flächen
Eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit ist ein topologischer Raum, der lokal homöomorph zum euklidischen Raum \(\R^n\) ist. (Wir werden zudem noch fordern, dass die Topologie hausdorffsch ist und eine abzählbare Basis der Topologie besitzt.) Als 1-dimensionale Mannigfaltigkeiten erkennen Sie unschwer die reelle Gerade \(\R^1\) und die Kreislinie \(\S^1\). Erlaubt man Mannigfaltigkeiten mit Rand, so kommen noch das abgeschlossene Intervall \([0,1]\) und das halboffene Intervall \([0,1[\) hinzu. Ein erster Klassifikationssatz besagt, dass jede zusammenhängende 1-dimensionale Mannigfaltigkeit homöomorph ist zu genau einem dieser vier Modelle. Zu 2-Mannigfaltigkeiten kennen Sie aus Ihrer Topologie-Vorlesung einen analogen (und viel interessanteren) Klassifikationssatz für kompakte Flächen.
Man kann Kurven und Flächen nicht nur abstrakt "für sich selbst" betrachten sondern auch auf verschiedene Weisen einbetten, zunächst in den euklidischen Raum \(\R^3\) oder die Sphäre \(\S^3\), oder allgemeiner in beliebige 3-dimensionale Mannigfaltigkeiten.
Knoten
Ganz anschaulich ist ein Knoten eine Einbettung der Kreislinie im Raum. Zwei Knoten betrachten wir als äquivalent wenn sie sich durch eine stetige Bewegung (Isotopie) ineinander überführen lassen. Wie lassen sich nun solche (Äquivalenzklassen von) Knoten mathematisch untersuchen? Wie können wir zum Beispiel Knoten unterscheiden? Wie lassen sich ihre geometrischen Eigenschaften erkennen?
Neben rein geometrischen Konstruktionen bieten sich zunächst die klassischen Invarianten der algebraischen Topologie an, vor allem Fundamentalgruppe und Homologie, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich auch auf Knoten angewendet wurden.
Seit den 1950er Jahren wurde das Wechselspiel zwischen Knoten, Flächen und 3-Mannigfaltigkeiten eingehend untersucht. Hierbei sind Knoten nicht nur Untersuchungsgegenstand sondern auch Werkzeug zur Konstruktion und Untersuchung von 3-Mannigfaltigkeiten.
1984 hat die Entdeckung des Jones-Polynoms eine explosionsartige Entwicklung der Knotentheorie ausgelöst, die bis heute anhält. Diese hat Invarianten ganz neuen Typs hervorgebracht, zunächst die sogenannten Quanteninvarianten und in den letzten zehn Jahren sogenannte Knotenhomologien, und damit Beziehungen zu entfernt geglaubten Gebieten der Mathematik und der Physik geknüpft.
Voraussetzungen
Benötigt werden die Kenntnisse des Grundstudiums und der Topologie (Grundvokabular, Fundamentalgruppe, Überlagerungen, Klassifikation kompakter Flächen).
Grundzüge der algebraischen Topologie sind nützlich, können aber nebenher erlernt werden. Hier benötigen wir vor allem die erste Homologiegruppe, und diese ist als Abelschmachung der Fundamentalgruppe unmittelbar zugänglich. (Anders gesagt, die Knotentheorie bietet einen guten Einstieg in die algebraische Topologie mittels einer Fülle anschaulicher und interessanter Anwendungsbeispiele.)
Allgemein gilt: Jede ernsthafte Beschäftigung mit Mathematik erfordert zunächst Interesse, Neugier und Offenheit für Probleme und sodann Kreativität, Sorgfalt und Hartnäckigkeit bei deren Lösung.
Literatur
Einführende Literatur zur Knotentheorie
- W.B.R. Lickorish: An Introduction to Knot Theory, Springer 1997.
- G. Burde, H. Zieschang: Knots, De Gruyter 1985.
- D. Rolfsen: Knots and Links, Publish or Perish 1976, AMS 2003.
- C. Kassel, V. Turaev: Braid Groups, Springer 2008.
Die Vorlesung folgt im Wesentlichen dem Buch von Lickorish, mit Abweichungen und Ergänzungen « selon l'humour du chef » und je nach Reaktion der Zuhörer.
Leichte aber lehrreiche Lektüre
- C.C. Adams: Das Knotenbuch, Spektrum Akademischer Verlag 1995.
- A.A. Sossinsky: Mathematik der Knoten, Rowohlt 2000.
- C. Livingston: Knotentheorie für Einsteiger, Vieweg+Teubner 1995.
Diese drei Bücher sind — auch ohne Vorlesung! — leicht zu lesen, spannend geschrieben, und — auch als Ergänzung der Vorlesung — sehr lehrreich!
Zum Vertiefen topologischer Hilfsmittel
- A. Hatcher: Algebraic Topology, C.U.P. 2002, auch online frei zugänglich.
- A. Hatcher: Notes on Basic 3-Manifold Topology, online frei zugänglich.
- E.E. Moise: Geometric Topology in Dimensions 2 and 3, Springer 1977.
- T. Bröcker, K. Jänich: Einführung in die Differentialtopologie, Springer 1990.
- M.W. Hirsch: Differential Topology, Springer 1997.
Viele (differential-)topologische Argumente sind in niedriger Dimension intuitiv glaubwürdig. Das ersetzt natürlich keinen Beweis! Es rechtfertigt aber den Kompromiss, die wenigen benötigten Hilfsmittel zunächst ohne Beweis zu zitieren und direkt anzuwenden. Die obigen Bücher lohnen allemal das Nachlesen!
Themen der Vorlesung
Einführung in Bildern und Beispielen
- Mathematische Modellierung: Was ist ein Knoten?
- Der Satz von Reidemeister und erste Invarianten
- Der Sätze von Jordan und Schönflies
- Seifert-Flächen und Primzerlegung von Knoten
- Seifert-Form, Signatur und Alexander-Polynom
- Jones-Polynom und Tait-Vermutungen
Bei dieser Vorlesung haben wir uns (bzw. ich mir) die Zeit genommen, viele Argumente im Detail zu durchleuchten, und daher weniger Strecke zurückgelegt als zuvor und wesentlich weniger als noch davor. Ich hoffe damit jeweils zum Publikum passende Entscheidungen getroffen zu haben.
Termine im SoSe 2013
Das Sommersemester ist 14 Wochen kurz, nach Abzug der Feiertage bleiben uns 25 Vorlesungen.
Vorlesungsbeginn am 08.Apr.2013 | |
V01 Mi 10.Apr | Organisatorisches zur Vorlesung. Einführung: Geschichte, motivierende Beispiele zu Zöpfen und Knoten, erste Experimente und erste Begriffe. |
V02 Do 11.Apr | Artins Zopfgruppe, Präsentation durch Erzeuger und Relationen, Drall \(B_n \to \Z\), Zentrum von \(B_n\), Darstellung \(B_3 \to SL_2\Z\), Diracs Zopfgruppe, Anwendung. |
Ü01 Fr 12.Apr | Knoten, Reidemeisterzüge, Klassifikationsproblem, Dreifärbungen, Eigenschaften, Anwendungen, Frage der Inversen, Diskussion von Mazurs Trick. |
V03 Mi 17.Apr | Zerlegung in Primknoten, Verschlingungen und Verschlingungszahl, Die Frage der Chiralität, alternieredne Diagramme, Formulierung der Tait-Vermutungen. |
V04 Do 18.Apr | Kauffman-Klammer und Jones-Polynom, Invarianz unter Reidemeister-Zügen, erste Beispiele und Anwendungen. |
Ü02 Fr 19.Apr | |
V05 Mi 24.Apr | [A] Topologische Knoten \(\S^1 \hookrightarrow \R^3\), zahme und wilde Knoten, Beispiele (noch ohne Beweis), glatte Knoten sind zahm, polygonale Knoten sind zahm. |
V06 Do 25.Apr | Homotopie, Isotopie, Homöotopie, glatte Isotopie und Diffeotopie, Delta-Züge und Homöotopie, Äquivalenz der verschiedenen Definitionen. |
Ü03 Fr 26.Apr | |
V-- Mi 01.Mai | Die Vorlesung entfällt aufgrund des Feiertages (Tag der Arbeit). |
V07 Do 02.Mai | Alexander-Trick und Anwendungen. [B] Polygonale Knoten, Projektion \(\R^3 \to \R^2\), Regularität, polygonale Diagramme, Hochhebung. |
Ü04 Fr 03.Mai | |
V08 Mi 08.Mai | Reguläre Projektionen sind offen und dicht, Reidemeister-Züge, der Satz von Reidemeister |
V-- Do 09.Mai | Die Vorlesung entfällt aufgrund des Feiertages (Christi Himmelfahrt). |
Ü05 Fr 10.Mai | |
V09 Mi 15.Mai | Anfang der Knotentabelle, Kreuzungszahl, Färbungszahlen, die Menge der Knotentypen ist abzählbar unendlich. |
V10 Do 16.Mai | Verschlingungszahlen, trennbare Verschlingungen, Whitehead-Verschlingung mit Hilfe von Überlagerungen. |
Ü06 Fr 17.Mai | |
Pfingstferien vom 20.Mai 2013 bis 25.Mai 2013 | |
V11 Mi 29.Mai | [C] Der Satz von Jordan für polygonale Kurven \(\S^1 \cong C \subset \R^2\): Das Komplement hat zwei Komponenten, \(\R^2 \setminus C = A \sqcup B\) und \(\partial A = \partial B = C\). |
V-- Do 30.Mai | Die Vorlesung entfällt aufgrund des Feiertages (Fronleichnam). |
Ü07 Fr 31.Mai | |
V12 Mi 05.Jun | Der Satz von Schönflies für polygonale Kurven in der Ebene: \(\overline{B}\) ist triangulierbar, sukzessives Einklappen von Dreiecken, Beweis per Induktion. |
V13 Do 06.Jun | Der Satz von Schönflies für glatte Einbettungen \(\S^1 \hookrightarrow \R^2\) und \(\S^2 \hookrightarrow \R^3\), Morse-Funktionen, eingebettete Chirurgie, Induktion über kritische Punkte. |
Ü08 Fr 07.Jun | |
V14 Mi 12.Jun | [D] Seifert-Algorithmus: von (polygonalen) Knoten zu (triangulierten) Seifert-Flächen, Beispiele, Klassifikation kompakter Flächen. |
V15 Do 13.Jun | Seifert-Geschlecht, Charakterisierung des trivialen Knotens, Additivität, Existenz der Primfaktorzerlegung per Induktion über das Geschlecht. |
Ü09 Fr 14.Jun | |
V16 Mi 19.Jun | Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung, Beweis per Chirurgie entlang von Sphärensystemen. [E] Beispiele von Seifert-Flächen. |
V17 Do 20.Jun | Je zwei Seifert-Flächen zum selben Knoten sind S-äquivalent, Beweis durch erschöpfende Diskussion aller Reidemeister-Züge. |
Ü10 Fr 21.Jun | |
V18 Mi 26.Jun | Ende des Beweises für Bandflächen. Abelschmachung, Fundamentalgruppen \(\pi_1(X,x_0) \to H_1(X)\), Un/Abhängigkeit von Basispunkt, Flächen |
V19 Do 27.Jun | Seifert-Form und Seifert-Matrizen, ausführliches Beispiel: Twist-Knoten, Symmetrien, verbundene Summe, Chirurgie, S-Äquivalenz, Determinante. |
Ü11 Fr 28.Jun | |
V20 Mi 03.Jul | Determinante, Signatur, Symmetrien und verbundene Summe, Anwendungen, Alexander-Polynom \(\Delta(K) \in \Z[q^\pm]\), Ungleichung \(\deg \Delta \le 4 g\) |
V21 Do 04.Jul | Schienenrelation, Beispiele, rekursive Berechnung als Eindeutigkeitsaussage, Existenz: Alexander (1928), Conway (1969), Jones (1984), HOMFLY-PT. |
Ü12 Fr 05.Jul | |
V22 Mi 10.Jul | ½ Signatur ≤ Geschlecht ≤ Entknotungszahl . [F] Kauffman-Klammer, Jones-Polynom, prime / reduzierte / alternierende / adäquate Diagramme. |
V23 Do 11.Jul | Reduzierte alternierende Diagramme sind adäquat, Ungleichungen für maxdeg / mindeg, hinreichende und notwendige Bedingungen für Gleichheit. |
Ü13 Fr 12.Jul | |
V24 Mi 17.Jul | Anwendung von Jordan-Schönflies auf zusammenhängende / prime Diagramme und Verschlingungen, Beweis der ersten Tait-Vermutung. |
V25 Do 18.Jul | Kabelung von Diagrammen, Drall und reguläre Äquivalenz (R2/3), Beweis der zweiten Tait-Vermutung, Anwendungen. |
Ü14 Fr 19.Jul | Der letzte macht das Licht aus. |
Vorlesungsende am 20.Jul.2013 |
Zu guter Letzt
Hier die Lösung der eingangs gestellten Knobelaufgabe — es handelt sich um das berühmte Perko-Paar. In den Jahren 1876–1900 erstellten Tait, Kirkman und Little in mühevoller Handarbeit die ersten Knotentabellen: Ihr Ziel war es, eine vollständige und redundanzfreie Liste aller Primknoten bis 10 Kreuzungen zu erstellen.
Seither glaubte man, dass die beiden fraglichen Knoten verschieden sind, da es niemandem gelungen war, sie ineinander zu überführen. (Auch ist der Drall, d.h. die Summe der Kreuzungsvorzeichen, der beiden Diagramme verschieden, und man nahm zunächst an, dieser sei eine Invariante.) Bis in die 1970er Jahre wurden die beiden daher in allen Knotentabellen und Lehrbüchern als verschieden aufgeführt. Einen Beweis hierfür hatte man allerdings nicht finden können...
A B
1974 entdeckte der New-Yorker Rechtsanwalt und Topologe Kenneth Perko, dass es sich um isotope Darstellungen desselben Knotentyps handelt! (Diese überraschende Entdeckung war Teil seiner viel umfangreicheren Arbeit, mit der er die Klassifikation der Knoten bis zehn Kreuzungen vollendete.)
Als Beweis für A=B genügt es, eine Isotopie zu finden.
Hier ist eine solche Deformation in 16 Bildern:
All diese schönen Grafiken stammen aus Bob Schareins KnotPlot. Historische Quellen wurden von Andrew Ranicki auf seiner Seite History of knot theory zusammengetragen. Zum Stand nach 100 Jahren Knotentabellierung siehe den Artikel von Hoste, Thistlethwaite, Weeks: The first 1,701,936 knots.
Perkos Beispiel lehrt, dass anschauliche oder empirische Argumente auch täuschen können. Glücklicherweise erlaubt die Entwicklung von immer feineren Invarianten, Knoten zu unterscheiden und solcherart Ungewissheiten zu beseitigen. Nach Perkos abschließender Korrektur ist Littles Knotentabelle bis 10 Kreuzungen tatsächlich redundanzfrei.