Michael Eisermann
Die Kräftigung des räumlichen Vorstellungsvermögens
und der räumlichen Gestaltungskraft gehört unbestritten
zu den wichtigsten Zielen eines jeden geometrischen Unterrichts.
Arthur Schönflies (1853–1928),
Einführung in die
Hauptgesetze der zeichnerischen Darstellungsmethoden
Geometrische Topologie und Knotentheorie
Vorlesung im Sommersemester 2011.
Vorlesung (Michael Eisermann) | Di 14:00 - 15:30 | Raum V57-7.530 |
Fr 14:00 - 15:30 | Raum V57-7.530 | |
Übung (Michael Eisermann) | Mi 11:30 - 13:00 | Raum V57-7.530 |
Zum Einstieg eine berühmte Knobelaufgabe: Sind die beiden folgenden Knoten isotop? Anders gesagt: Lassen sie sich durch eine stetige Bewegung ineinander überführen? Falls ja, so gebe man eine Bewegung an, andernfalls einen Beweis ihrer Nicht-Existenz.
A B
Auf dieser Seite finden Sie:
- Einen kurzen Überblick zur Einführung und Motivation
- Ein paar Worte zu den nötigen Vorkenntnissen
- Einführende und ergänzende Literatur zum Thema
- Themen der Vorlesung und Termine im SoSe 2011
- Zu guter Letzt die Antwort auf das obige Rätsel
Rückmeldungen? Ich freue mich über Ihre Kommentare und Anregungen! Bitte lassen Sie mich wissen, wie Ihnen die Veranstaltung gefällt, wie Sie mit dem Stoff zurecht kommen, und was sich verbessern lässt.
Aktuelles
Diese Seite wird nicht mehr regelmäßig aktualisiert; sie wird aber noch längere Zeit zugänglich bleiben, um als Archiv zu dienen. Zur Übersicht: aktuelle und vergangene Lehrveranstaltungen
Einführung und Motivation
Die geometrische Topologie untersucht Mannigfaltigkeiten und ihre Abbildungen, insbesondere Einbettungen. Besonders reizvoll und leicht fasslich ist diese Theorie in niedriger Dimension, wo sie spezielle Phänomene enthüllt und maßgeschneiderte Techniken nutzbar macht. Diese Vorlesung widmet sich insbesondere Knoten und Flächen als einem zentralen Gegenstand der 3-dimensionalen Topologie und Werkzeug zum Studium von 3-Mannigfaltigkeiten.
Tafelbild aus George K. Francis: „A Topological Picturebook”
Springer Verlag, New York 1987.
Eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit ist ein topologischer Raum, der lokal homöomorph zum euklidischen Raum Rn ist. (Man sollte zudem noch fordern, dass die Topologie hausdorffsch ist und eine abzählbare Basis der Topologie besitzt.) Als 1-dimensionale Mannigfaltigkeiten erkennen Sie unschwer die reelle Gerade R1 und die Kreislinie S1; erlaubt man Mannigfaltigkeiten mit Rand dann kommen noch das abgeschlossene Intervall [0,1] und das halboffene Intervall [0,1[ hinzu. Ein erster Klassifikationssatz besagt, dass jede zusammenhängende 1-dimensionale Mannigfaltigkeit homöomorph ist zu genau einem dieser vier Modelle. Zu 2-Mannigfaltigkeiten kennen Sie aus Ihrer Topologie-Vorlesung einen analogen (und viel interessanteren) Klassifikationssatz für kompakte Flächen.
Man kann solche Objekte nun nicht nur abstrakt "für sich selbst" betrachten sondern auch auf verschiedene Weisen einbetten, zunächst in den euklidischen Raum R3 oder die Sphäre S3, oder allgemeiner in beliebige 3-dimensionale Mannigfaltigkeiten.
Ganz anschaulich ist ein Knoten eine Einbettung der Kreislinie im Raum. Zwei Knoten betrachten wir als äquivalent wenn sie sich durch eine stetige Bewegung (Isotopie) ineinander überführen lassen. Wie lassen sich nun solche (Äquivalenzklassen von) Knoten mathematisch untersuchen? Wie können wir zum Beispiel Knoten unterscheiden? Wie lassen sich ihre geometrischen Eigenschaften erkennen?
Neben rein geometrischen Konstruktionen bieten sich zunächst die klassischen Invarianten der algebraischen Topologie an, vor allem Fundamentalgruppe und Homologie, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich auch auf Knoten angewendet wurden.
Seit den 1950er Jahren wurde das Wechselspiel zwischen Knoten, Flächen und 3-Mannigfaltigkeiten eingehend untersucht. Hierbei sind Knoten nicht nur Untersuchungsgegenstand sondern auch Werkzeug zur Konstruktion und Untersuchung von 3-Mannigfaltigkeiten.
1984 hat die Entdeckung des Jones-Polynoms eine explosionsartige Entwicklung der Knotentheorie ausgelöst, die bis heute anhält. Diese hat Invarianten ganz neuen Typs hervorgebracht, zunächst die sogenannten Quanteninvarianten und in den letzten zehn Jahren sogenannte Knotenhomologien, und damit Beziehungen zu entfernt geglaubten Gebieten der Mathematik und der Physik geknüpft.
Voraussetzungen
Benötigt werden die Kenntnisse des Grundstudiums und der Topologie (Grundvokabular, Fundamentalgruppe, Überlagerungen, Klassifikation kompakter Flächen).
Grundzüge der algebraischen Topologie sind nützlich, können aber nebenher erlernt werden. Hier benötigen wir vor allem die erste Homologiegruppe, und diese ist als Abelschmachung der Fundamentalgruppe unmittelbar zugänglich. (Anders gesagt, die Knotentheorie bietet einen guten Einstieg in die algebraische Topologie mittels einer Fülle anschaulicher und interessanter Anwendungsbeispiele.)
Allgemein gilt: Jede ernsthafte Beschäftigung mit Mathematik erfordert zunächst Interesse, Neugier und Offenheit für Probleme und sodann Kreativität, Sorgfalt und Hartnäckigkeit bei deren Lösung.
Literatur
Einführende Literatur zur Knotentheorie
- W.B.R. Lickorish: An Introduction to Knot Theory, Springer 1997.
- G. Burde, H. Zieschang: Knots, De Gruyter 1985.
- D. Rolfsen: Knots and Links, Publish or Perish 1976, AMS 2003.
Die Vorlesung folgt im Wesentlichen dem Buch von Lickorish, mit Abweichungen und Ergänzungen « selon l'humour du chef » und je nach Reaktion der Zuhörer.
Leichte aber lehrreiche Lektüre
- C.C. Adams: Das Knotenbuch, Spektrum Akademischer Verlag 1995.
- A.A. Sossinsky: Mathematik der Knoten, Rowohlt 2000.
- C. Livingston: Knotentheorie für Einsteiger, Vieweg+Teubner 1995.
Diese drei Bücher sind — auch ohne Vorlesung! — leicht zu lesen, spannend geschrieben, und — auch als Ergänzung der Vorlesung — sehr lehrreich!
Zum Nachlesen topologischer Hilfsmittel
- A. Hatcher: Algebraic Topology, C.U.P. 2002, auch online frei zugänglich.
- A. Hatcher: Notes on Basic 3-Manifold Topology, online frei zugänglich.
- E.E. Moise: Geometric Topology in Dimensions 2 and 3, Springer 1977.
- T. Bröcker, K. Jänich: Einführung in die Differentialtopologie, Springer 1990.
- M.W. Hirsch: Differential Topology, Springer 1997.
Viele (differential-)topologische Argumente sind in niedriger Dimension intuitiv glaubwürdig. Das ersetzt natürlich keinen Beweis! Es rechtfertigt aber den Kompromiss, die wenigen benötigten Hilfsmittel zunächst ohne Beweis zu zitieren und direkt anzuwenden. Die obigen Bücher lohnen allemal das Nachlesen!
Themen der Vorlesung
- Mathematische Modellierung: Was ist ein Knoten?
- Der Satz von Reidemeister und erste Invarianten
- Der Sätze von Jordan und Schönflies
- Seifert-Flächen und Primzerlegung von Knoten
- Seifert-Form, Signatur und Alexander-Polynom
- Präsentationen von Gruppen durch Erzeuger und Relationen
- Die Fundamentalgruppe des Knotenkomplements
- Das Jones-Polynom und Verallgemeinerungen
- Die Tait-Vermutungen über alternierende Diagramme
- Zopfgruppen in verschiedenen Erscheinungsformen
Termine im SoSe 2011
Das Sommersemester ist mit 13 Wochen (wie immer) etwas zu kurz geraten. Der Zeitplan ist daher leider etwas gedrängter als mir lieb ist. Aber sei's drum.
Vorlesungsbeginn am 26.Apr.2011 | |
V01 Di 26.Apr | Organisatorisches, Überblick. [A] Einleitung und Motivation, Homotopie, Isotopie, Homöotopie, Alexander-Trick, erste Anwendung. |
V02 Fr 29.Apr | Isotopie vs ambiente Isotopie, wilde und zahme Knoten, dicke / glatte / polygonale Knoten und ihre Bewegungen, Äquivalenz (ohne Beweis). |
V03 Di 03.Mai | Verbundene Summe definiert ein Monoid, Mazurs Trick, geschlossene Knoten. [B] Beweglichkeit polygonaler Knoten, reguläre Projektionen. |
V04 Fr 06.Mai | Knotendiagramme, Reidemeister-Züge, Satz von Reidemeister, algorithmische Probleme, alternierende Knoten, Tait-Vermutungen. |
V05 Di 10.Mai | Verschlingungen, distante Vereinigung, Trennbarkeit, Verschlingungszahl, Hopf- und Whitehead-Verschlingung, Überlagerungen, borromäische Ringe. |
V06 Fr 13.Mai | Dreifärbungen, n-Färbungen, Beispiele und Eigenschaften, Schlussfolgerung: Es gibt abzählbar unendlich viele Knotentypen, Brückenzahl. |
V07 Di 17.Mai | Entknotungszahl, untere Schranke durch Färbungen. [C] Vorbereitende Beispiele zum Jordanschen Kurvensatz, Cantors Karussel. |
V08 Fr 20.Mai | Jordan-Kurven, Jordanscher Nicht-Trennungssatz / Trennungssatz / Kurvensatz, Beweise im polygonalen Fall, Diskussion auf Flächen. |
V09 Di 24.Mai | Satz von Schönflies, Beweis im polygonalen Fall, höhere Dimension: Alexanders Trennungssatz, wilde und zahme Sphären, Mazurs Trick. |
V10 Fr 27.Mai | Bewegung von glatten Bällen in glatten Mannigfaltigkeiten, Satz von Alexander-Schönflies für glatte Einbettungen S2→R3 (nach Hatcher). |
V11 Di 31.Mai | [D] Seifert-Flächen, Konstruktion durch Seifert-Algorithmus, Geschlecht, Additivität unter verbundener Summe, Zerlegung in Primknoten. |
V12 Mi 01.Jun | (Sondertermin!) Eindeutigkeit der Primzerlegung. [E] Wiederholung: Fundamentalgruppe π1 und Abelschmachung H1, Anwendung auf Flächen. |
V13 Di 07.Jun | Nicht-Eindeutigkeit von Seifert-Flächen, Chirurgie und S-Äquivalenz, Seifert-Form, Beispiele, Symmetrien und verbundene Summe. |
V14 Fr 10.Jun | S-Äquivalenz von Matrizen, Invarianz der Determinante und der Signatur, Twistknoten, Chiralität der Kleeblattschlinge, Alexander-Polynom. |
Pfingstferien vom 13.Jun.2011 bis 18.Jun.2011 | |
V15 Di 21.Jun | Alexander-Polynom: Beispiele und Eigenschaften, Schienenrelation, Schieneninvarianten: Eindeutigkeit und Algorithmus, Conway-Polynom. |
V16 Mi 22.Jun | (Sondertermin!) [F] Freie Gruppen, Gruppenpräsentationen durch Erzeuger und Relationen, Wortproblem, residuell endliche Gruppen. |
V17 Di 28.Jun | Tietze-Transformationen, Isomorphieproblem, Semi-Entscheidbarkeit, Beispiele. [G] Wirtinger-Präsentation, Invarianz unter Reidemeister-Zügen. |
V18 Fr 01.Jul | Isomorphismus zur Fundamentalgruppe (polygonale Wege und Homotopien), Tubenumgebung und Knotenaußenraum, Meridian und Longitude. |
V19 Di 05.Jul | Bericht über die Sätze von Papakyriakopoulos / Waldhausen / Thurston, Färbungspolynome, Beispiele und Anwendungen, nicht-reversible Knoten. |
V20 Fr 08.Jul | [H] Kauffman-Klammer, Invarianz unter R2/R3-Zügen, R1-Züge und Drall, Invarianz des Jones-Polynoms, Symmetrien, verbundene Summe, Beispiele. |
V21 Di 12.Jul | Schienenrelationen, Eindeutigkeit und Existenz von Schieneninvarianten, Vergleich Alexander-Conway / Jones / Homflypt, Invarianz unter Mutation. |
V22 Fr 15.Jul | [I] Tait-Vermutungen, Beispiele und Anwendungen, Klassifikation alternierender Knoten, Schachbrettfärbung, adäquate Diagramme. |
V23 Di 19.Jul | (Un)Gleichungen für maximalen und minimalen Grad der Kauffman-Klammer, Beweis der ersten Tait-Vermutung. |
V24 Fr 22.Jul | Kabelung, Drall und (Tafel-)Rahmung, Beweis der zweiten Tait-Vermutung: Invarianz des Dralls, nicht-alternierende Knoten, Beispiel Perko-Paar. |
V25 Di 26.Jul | (entfällt) |
V26 Mi 27.Jul | (Sondertermin) [J] Zopfgruppen: geometrisch, topologisch, algebraisch, Zentrum, Vergleich mit SL2Z, Ausblick auf Quanteninvarianten. |
Vorlesungsende am 30.Jul.2011 |
Zu guter Letzt
Hier die Lösung der eingangs gestellten Knobelaufgabe — es handelt sich um das berühmte Perko-Paar. In den Jahren 1876–1900 erstellten Tait, Kirkman und Little in mühevoller Handarbeit die ersten Knotentabellen: ihr Ziel war es, eine vollständige und redundanzfreie Liste aller Primknoten bis 10 Kreuzungen zu erstellen.
Seither glaubte man, dass die beiden fraglichen Knoten verschieden sind, da es nicht gelang, sie ineinander zu überführen. Bis in die 1970er Jahre wurden die beiden daher in allen Knotentabellen und Lehrbüchern als verschieden aufgeführt. Einen Beweis hierfür hatte man allerdings nicht finden können...
A B
1974 entdeckte der New-Yorker Rechtsanwalt und Topologe Kenneth Perko, dass es sich um isotope Darstellungen desselben Knotentyps handelt! (Diese überraschende Entdeckung war Teil seiner viel umfangreicheren Arbeit, mit der er die Klassifikation der Knoten bis zehn Kreuzungen vollendete.)
Als Beweis für A=B genügt es, eine Isotopie zu finden.
Hier ist eine solche Deformation in 16 Bildern:
All diese schönen Grafiken stammen aus Bob Schareins KnotPlot. Einen geschichtlichen Überblick gibt William Menascos Circular History of Knot Theory. Historische Quellen wurden von Andrew Ranicki auf seiner Seite History of knot theory zusammengetragen. Zum Stand nach 100 Jahren Knotentabellierung siehe den Artikel von Hoste, Thistlethwaite, Weeks: The first 1,701,936 knots.
Perkos Beispiel lehrt, dass anschauliche oder empirische Argumente auch täuschen können. Glücklicherweise erlaubt die Entwicklung von immer feineren Invarianten, Knoten zu unterscheiden und solcherart Ungewissheiten zu beseitigen. Nach Perkos abschließender Korrektur ist Littles Knotentabelle bis 10 Kreuzungen tatsächlich redundanzfrei.