Mathematik ohne Kunstgriffe?
Kunstgriffe sind sicher das, was die Mathematik für viele erst interessant
macht. Ein typisches Beispiel: Van der Waerden erwähnt in seinem klassischen
Algebra-Buch (1. Auflage 1930) einen “Kunstgriff von Rabinowitsch”.
Dieser führt den Hilbertschen Nullstellensatz auf einen Spezialfall zurück:
Über einem algebraisch abgeschlossenen Körper K hat jedes maximale
Polynomideal eine Nullstelle im zugehörigen affinen Raum. Der Kunstgriff
besteht darin, eine neue
Variable einzuführen, also geometrisch gesprochen, die Dimension des
affinen Raumes um 1 zu erhöhen.
Kunstgriffe verblüffen, indem sie scheinbar verschiedene Aspekte miteinander
verbinden und daraus Nutzen ziehen. Mathematik hat jedoch die eigenartige
Tendenz, Kunstgriffe zu systematisieren und damit wieder aufzulösen: Durch
weiteres Nachdenken
entsteht eine Theorie, in der alles seinen natürlichen Platz findet. Was
Cardano im 16. Jahrhundert als “ars magna” bezeichnete,
wird durch die Galois-Theorie trivialisiert: Die Kunst, eine kubische Gleichung
zu lösen, verschwindet in der Betrachtung einer Gruppe mit sechs Elementen.
Die Kunst in der Mathematik frappiert also nur so lange, bis der Zusammenhang
zwischen dem Problem und seiner zunächst genial erscheinenden Lösung
durchschaut wird. Es ist keine
Frage, daß jeder Kunstgriff früher oder später durch die stets fortschreitende
Theorie eingeholt wird. Man kann das bedauern.
Aber das Prinzip, welches die momentane Kunst in eine zeitlose Theorie
verwandelt, ist nichts anderes als das, was die Mathematik in ihrem Kern
zusammenhält und ihr dauernden Bestand verleiht.
Die Anwendung einer umfassenden Theorie auf einen Spezialfall ist oft mit
viel Mühe verbunden, auch wenn die Theorie alles Nötige bereitstellt: Die
praktische Auflösung einer biquadratischen Gleichung mit Hilfe
der Galois-Theorie gelingt nicht im Handumdrehen. Dennoch ist diese Aufgabe
trivial - sie muß nur durchgeführt werden. Was hierbei Mühe bereitet, ist
die explizite Übertragung theoretischer Beweisschritte in einen speziellen
Kontext. Auch wenn die Beweise konstruktiv sind, kann das sehr anstrengend
sein. Trivial ist die Aufgabe also nur insofern, als sie in endlich vielen
Schritten mit Sicherheit gelöst werden kann. Nicht “trivial” in
diesem Sinne war der Beweis des Vierfarbensatzes mittels der Theorie von
Heesch, und noch viel weniger der Beweis der Weil-Vermutungen mit
Hilfe der Methoden von Grothendieck, obwohl der Lösungsweg im wesentlichen
bereits vorgegeben war.
Um eine Theorie voranzutreiben, bedarf es immer wieder der Kunstgriffe.
Sie sind wie Strickleitern, die eine Schlucht zu überqueren helfen. Es geht
dabei meist um die Lösung eines speziellen Problems. Manchmal führt das zur
Entwicklung einer Methode, die über den speziellen Anlaß hinaus wegweisend
wird. Bei den Weil-Vermutungen ist das die l-adische Cohomologie, die
nicht nur zum vollständigen Beweis derselben geführt, sondern die Gebiete der
algebraischen Geometrie, Topologie und Zahlentheorie in neuer Weise vereint
hat.
Der singuläre Charakter des Kunstgriffs tritt hier vor der Gesamtschau
mathematischer Gebiete bereits stark in den Hintergrund. Er ist nur Mittel zum
Zweck: nämlich das zu erkennen, was die mathematischen Teilgebiete zu einem
Ganzen
macht. Man sollte daher das Ferment, welches als Kunstgriff hier und da
glänzend zu Tage
tritt, besser “Intuition” nennen. Der mathematische Formalismus
verdeckt oft das Wesen der Mathematik, welches allein der Intuition zugänglich
ist. Die Verifikation eines Beweises berührt dieses Wesen noch nicht. Sie kann
sehr mühevoll sein, aber sie ist im eigentlichen Sinne wieder
“trivial”: Sie ist Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst. Man
kann einem Computer Schach spielen beibringen, und er gewinnt dann sogar gegen
den Weltmeister, wenn dieser nicht aufgepaßt hat. Es ist jedoch nur der
Programmierer, der den Weltmeister besiegt, indem er ihn mit den
aufgezeichneten Partien zahlreicher Großmeister konfrontiert. Der Computer
hat alles im Speicher, versteht aber selbst nichts.
Was also leistet die Intuition für die Mathematik? Sie liefert den Ansatz, die
Methode - sie ist der Motor für den Fortschritt, auch
bei der Lösung einfachster Aufgaben. Zum Beweis des Satzes von Cayley-Hamilton
könnte man zum Beispiel auf die Idee kommen, die Matrix A so in
ihre charakteristische Gleichung |xE-A|=0 einzusetzen, daß der Ausdruck
xE-A in AE-A=0 übergeht, was natürlich verboten ist, da die
skalare Multiplikation nicht gleich der Matrixmultiplikation ist. Und doch
läßt sich dieser Mißgriff in einen korrekten Beweis verwandeln, wenn die dazu
nötige Theorie der äußeren Algebra bereitgestellt wird.
Kunstgriffe gehen somit einer Theorie voraus, sie greifen ins noch Unbekannte,
verbinden das scheinbar Getrennte, damit dieses durch weiteres Nachdenken
seinen natürlichen Platz in der allgemeinen Theorie erhält und damit bekannt
wird.