"Zur Schulentwicklungsdiskussion: Länger gemeinsam lernen?"

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten in:
"Philologenverband traut seiner Lehrerschaft nicht viel zu" von Bernd Dieng


Diese Schrift selbst ist Teil von dem Informationsmaterial des Vereins "Länger gemeinsam Lernen" und soll angeblich zur "Versachlichung der derzeitigen Schulentwicklungsdiskussion beitragen". Wie sachlich das ist, mag jeder selbst beurteilen. Der Text selbst steht hier.

Es wird im folgenden gezeigt, dass viele Argumente nicht zutreffend sind. Sie werden in derselben Reihenfolge behandelt, wie sie in dem Artikel stehen.

BEHAUPTUNG DIENG: "Was von Grundschulpädagogen wie selbstverständlich verlangt wird, nämlich einen gesamten Jahrgang individualisiert zu beschulen, stellt laut Philologenverband die Gymnasiallehrkräfte vor fast unlösbare Probleme."

DIE REALITÄT: Hier ist wohl anzumerken, dass die individualisierte Beschulung in den Grundschulen bei ausgeprägter Heterogenität mehr postuliert als realisiert wird. In der rauen Wirklichkeit dürften gerade die Grundschullehrer vor fast unlösbaren Problemen stehen, wenn etwa die halbe Klasse kein Deutsch spricht oder nur ein paar Brocken. Die jüngste IQB-Studie 2016 zu Viertklässlern zeigt, dass die Grundschulen mit der Heterogenität und den vielen Migrantenkindern überfordert sind.
Und wenn es 15-jährige Analphabeten gibt, dann gab es vorher Analphabeten, die die Grundschule verlassen haben, obwohl sie genau dort eigentlich Lesen und Schreiben lernen sollten. Offenbar können die Hauptschullehrer dieses Problem im nachhinein auch nicht lösen. Natürlich können auch Gymnasiallehrer keine Wunder vollbringen. Siehe auch weiter unten zur IQB-Studie.

BEHAUPTUNG DIENG: "Der Philologenverband spricht aktuell von überforderten Schülerinnen und Schülern ... und schiebt die alleinige Schuld und Verantwortung der Landesregierung zu."

DIE REALITÄT: Ohne Zweifel hat G8 zu langen Schultagen und einer Verdichtung der Schulzeit geführt. Das kann Überforderung zur Folge haben. Aber vor allem ist es doch der reine Elternwille, mit dem heutzutage in BW jeder aufs Gymnasium gehen kann. Beide Regelungen liegen in der Verantwortung der Landesregierung. Manche Kinder werden halt von dem Willen ihrer Eltern überfordert. Man kann doch nicht erwarten, dass das Gymnasium sein Anspruchsniveau nach dem Elternwillen richtet wie ein Fähnlein seine Position nach dem Wind. Wenn ein gegliedertes Schulsystem Sinn machen soll, dann kann man auf die Gymnasien eben nur die besonders leistungsfähigen und -bereiten Kinder schicken, weil man nicht auf gewisse Mindestanforderungen verzichten kann. Und das heißt dann logischerweise: Die anderen sind überfordert, wenn sie trotzdem aufs Gymnasium gehen sollen. Die Ideologen des längeren gemeinsamen Lernens wollen ja gewissermaßen das ganze Volk auf ein "Gymnasium für alle" schicken (so wurde es im Wahlkampf von einer Grünen-Politikerin tatsächlich gesagt), aber dann sind eben sowohl der Anspruch als auch die sog. "besondere Lernatmosphäre" der Gymnasien verloren. Die letztere kann es nur geben, wenn eben nicht jeder am Gymnasium ist. Diese Lernatmosphäre einfach auf Gemeinschaftsschulen übertragen zu wollen wie Schulklassen von einem Gebäude in ein anderes, ist nur ein frommer Wunsch.

BEHAUPTUNG DIENG: "Dass das flächendeckende gemeinsame binnendifferenzierte Lernen auch bei uns gut funktioniert, beweisen wie erwähnt unsere Grundschulen."

DIE REALITÄT: Der Bericht der IQB-Vergleichsstudie 2011 zu Viertklässlern weist auf S. 231 zu Kindern mit Migrationshintergrund folgendes aus:
"Besonders ausgesprägte Disparitäten wurden in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg identifiziert. Vergleichsweise große Gruppenunterschiede waren außerdem ... im Bereich Mathematik in Baden-Württemberg und Niedersachsen zu verzeichnen."
Die Abweichungen sind statistisch signifikant und betragen im Mittel bis zu 70 auf der üblichen PISA-Skala, also fast zwei Schuljahre.
NB: Berlin hat eine 6-jährige Grundschule.

Das soll hier nicht als solches kritisiert werden, aber es deutet nun mal nicht darauf hin, dass es der Grundschule gelingt, dort, wo es besonders nötig wäre, den Anspruch des "gut funktionierenden binnendifferenzierten Lernens" einzulösen. Dieser Anspruch wird nur postuliert, aber nicht realisiert. Wenn nach 4 Schuljahren solche riesigen Unterschiede bestehen, woher kommt die Hoffnung, ein einheitliches Sekundarschulsystem d a n a c h könnte diese verkleinern und dadurch mehr Gerechtigkeit erreichen? Vermutlich werden die genannten "Disparitäten" in jedem Schulsystem immer weiter vergrößert.

BEHAUPTUNG DIENG: "Erfolgreiche Staaten ... sehen Schule nicht als Ort des Aus- und Einsortierens, sondern setzen stattdessen auf eine 'weiche Organisation' ihres Schulsystems."

DIE REALITÄT: Diese "erfolgreichen Staaten" sollten mal näher beschrieben werden und auch, wie weich ihre Schulsysteme sind. Die eigentlichen ostasiatischen PISA-Sieger haben knallharte Systeme mit einem enormen Leistungsdruck und einem 16-Stundentag für Schüler, was dem einheitlichen Schulsystem ja nicht widerspricht. Das "Abschulen" wird dann eben durch Pauken ersetzt. Das könnte man hierzulande eigentlich auch haben, man will aber nicht. In Europa sind laut PISA 2012 die Schweiz, Finnland und Deutschland mit an der Spitze. Warum also soll sich Deutschland als "nicht erfolgreich" fühlen? Der hohe Migrantenanteil in Deutschland (im Gegensatz zu Finnland) zieht bekanntlich den PISA-Durchschnitt herunter und verstärkt den "sozialen Gradienten" sowie dessen Einfluss auf den Schulerfolg. Pikanterweise erklärt jetzt die schwedische Schulbehörde die schwachen Werte bei PISA 2012 mit den vielen Zuwanderern. Die Kinder der autochthonen Bevölkerung in Deutschland könnten es hinsichtlich der PISA-Punkte wohl mit den finnischen Kindern noch aufnehmen. Und die Schulklassen sind in Finnland bekanntlich besonders klein.

BEHAUPTUNG DIENG: "15-20 % eines Jahrgangs aller 15-Jährigen erreichen bei uns nur die Kompetenzstufe 1, was nur schwach ausgebildete Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten bedeutet und letztlich eine nur eingeschränkte Ausbildungsfähigkeit zur Folge hat."

DIE REALITÄT: Die Zahl scheint zu stimmen, aber ist das nicht ein Versäumnis derjenigen Schulen, die solche Schüler entlassen? Warum übt man denn an den Hauptschulen nicht Lesen, Schreiben und Rechnen? Ganz einfach: weil es nicht mehr im Lehrplan steht. Denn der Lehrplan fordert stattdessen 1000 weitere hochtrabende Kompetenzen, die eigentlich erst darauf aufbauend erworben werden können. Der Lehrplan geht davon aus, dass in Klasse 5 alle lesen und schreiben können. Dann wendet man sich lieber der Unterscheidung verschiedener literarischer Stile zu. Wie soll das bei jemandem gehen, der nicht einmal richtig lesen kann? Und genauso geht es beim Bildungsplan 2016 in BW weiter, also steht Lesen und Schreiben auch an der Gemeinschaftsschule nicht mehr auf dem Lehrplan. Woher kommt jetzt die Hoffnung, dass quasi wie von Zauberhand das plötzlich doch geht, was an der Hauptschule aber partout nicht geht, dass nämlich alle Lesen und Schreiben lernen? Warum sollen Hauptschullehrer an Hauptschulen dabei scheitern, dieselben Hauptschullehrer an Gemeinschaftsschulen aber erfolgreich sein? Originalton Bildungsplan 2016 im Fach Deutsch, Klasse 5-6:
"Die Schülerinnen und Schüler wenden produktionsorientierte und zunehmend analytische Methoden an, um literarische Texte zu erschließen. Ihre erworbenen Kompetenzen können sie beim Verfassen zusammenhängender Texte nutzen."
Dass jemand gar nicht lesen und schreiben kann, ist nicht vorgesehen. Andererseits ist eine Abschulung in die Förderschule auch nicht mehr vorgesehen. Was also sollen die Lehrer tun? Den Bildungsplan ignorieren und Grundschulfähigkeiten nachholen? Das könnten die Hauptschulen eigentlich auch.

BEHAUPTUNG DIENG: "Fakt ist, dass Schulleistungsstudien zu keinem innerdeutschen Schulsystemvergleich taugen, da bisher in keinem einzigen Bundesland ein flächendeckendes 'Längeres gemeinsames Lernen' existiert."

DIE REALITÄT: Fakt ist nur der zweite Halbsatz, der erste ist eine Meinung. Man fragt sich, warum das IQB denn ausdrücklich beauftragt ist, Schulleistungsvergleiche zwischen den Bundesländern anzustellen. Man soll nicht vergessen, dass die meisten Kultusminister von SPD und Grünen gestellt werden, die ihrerseits die Gemeinschaftsschule favorisieren. Warum preist der Autor die internationalen Schulleistungsstudien und verachtet die nationalen? Beide folgen denselben Prinzipien und haben dieselben Mängel, nämlich gelegentlich "Äpfel mit Birnen" zu vergleichen. Man darf sie nicht überbewerten, das gilt aber auch für PISA. Nebenbei: die GEW hat die erste PISA-Studie sehr begrüßt und wollte sie zur Erreichung gewerkschaftlicher Ziele benutzen. Kürzlich hieß es aber, man würde PISA gar nicht für gut halten. So schnell kann sich das ändern.
Tatsache: Als Resultat eines dieser Vergleichstests hat Wilfried Bos in einem Spiegel-Interview am 18.11.2008 gesagt: "Wie sich bisher gezeigt hat, ist der Einfluss des Eltern-Status auf den Bildungserfolg der Kinder nirgendwo so groß wie in Berlin, Rumänien und Hamburg - und am geringsten in Bayern" (Bayern hat bekanntlich ein differenziertes Schulsystem und nur 5 Gesamtschulen).

BEHAUPTUNG DIENG: "Im Zeitalter der Globalisierung sollte man längst festgestellt haben, dass ein 'Längeres gemeinsames Lernen' internationaler Standard ist." Und dann wird u.a. auf Skandinavien verwiesen.

DIE REALITÄT: Zunächst einmal hat Schule nichts mit Globalisierung zu tun, weil sie in Deutschland in der Hand der Bundesländer liegt, also lokal definiert wird. Man kann sich ja selbst in Deutschland nicht auf gemeinsame Bildungsziele oder Lehrpläne einigen, nicht einmal auf ein einheitliches Schulsystem, auf die Zahl der Schulstunden im Fach Mathematik oder die Dauer von Abiturklausuren. International globalisierte Bildungsziele oder Standards sind eine Fata Morgana, und kein Land wird sich vom Ausland reinreden lassen, was sein Schulsystem betrifft.

Zu Skandinavien: Hier hat man in der Tat das "Längere gemeinsame Lernen". Und was sagt dazu die PISA-Studie von 2012 im Fach Mathematik? Beim Mittelwert liegen Dänemark und Norwegen hinter Deutschland, Schweden liegt sogar um 36 Punkte hinter Deutschland (das ist enorm viel, fast ein ganzes Schuljahr), und das Wunderland Finnland liegt gerade noch 5 Pünktchen vor Deutschland, was nicht signifikant ist. Bei PISA 2015 war es ähnlich. Zu den leistungsstärksten Schülern s. unten. Die Ideologen des längeren gemeinsamen Lernen schwärmen heute noch von Schweden und den skandinavischen PISA-Siegern, obwohl das so nicht mehr stimmt. Bei der ersten PISA-Studie 2000 war es anders, aber das ist ja wohl überholt. Und schon hört man Ausreden wie "die Schweden haben halt Fehler gemacht". Ja, bestimmt haben sie das, aber wer schützt uns in Deutschland vor ähnlichen Fehlern nach einer flächendeckenden Einführung von Gemeinschaftsschulen?

POSTULAT DIENG": "Kein Platz für Partikularinteressen"

DIE REALITÄT: Hier ist es so, dass Herr Dieng auch auf mehrfache Anfrage nichts zu den Sport-Eliteschulen sagen wollte, obwohl er selbst Sportlehrer ist. Bleiben die erhalten als Teil des längeren gemeinsamen Lernens? Offenbar ist das Thema tabu. Es ist ein Musterbeispiel von Partikularinteressen:
Die Sportfunktionäre planen schon im voraus die Zahl der Olympia-Medaillen für 2024, 2028 usw., und dazu dienen die Sport-Eliteschulen. Gerade dort gibt es Aufnahmeprüfungen, dort ist der Leistungsdruck auf die Schüler besonders hoch, und gerade dort haben sie keine Zeit mehr für ein Privatleben und ein Entwickeln ihrer Persönlichkeit - genau das, was dem G8-Gymnasium immer vorgeworfen wird.
Man könnte auch so sagen: Es wird das längere gemeinsame Lernen postuliert, aber im Bereich des Sports wird nie das längere gemeinsame Trainieren postuliert. Hier soll eine Elite schon frühzeitig von den anderen separiert werden. Das ist genau die Art des Aussortierens, die beim gegliederten Schulsystem als so schrecklich hingestellt wird.
Schließlich und endlich gibt es mächtige Partikularinteressen auch bei den Kirchen, die ihre konfessionellen Schulen mit aller Macht verteidigen, um dort den Religionsunterricht und den Schulgottesdienst zu sichern. Wer die "eine Schule für alle" und keine Partikularinteressen haben will, sollte konfessionelle Schulen zur Abschaffung vorschlagen. Warum sollen wir im 21. Jahrhundert die Kinder nach religiösen Konfessionen sortieren, wenn wir sie nach Leistung gerade nicht sortieren dürfen? Man denke auch an mögliche islamische Schulen, natürlich getrennt nach zahlreichen (verfeindeten) Richtungen im Islam.

RHETORISCHE FRAGE DIENG: "Sind bestimmte Gruppierungen im Schulwesen bereit, die bei uns in Baden- Württemberg eklatante und mit christlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarende hohe Bildungsungerechtigkeit anzugehen?"

DIE REALITÄT: Die Privatschulen werden keinen Anlass sehen, sich um Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit zu kümmern. Sie haben ihre Klientel: Eine reiche Oberschicht kann es sich immer leisten, dem öffentlichen Schulwesen zu entfliehen. Jede Unzufriedenheit mit dem Schulwesen treibt auch die Kinder von nicht so begüterten Leuten in die Privatschulen, oft unter erheblichen Opfern der Eltern. Unter diesen Unzufriedenen sind auch Parteipolitiker von Parteien, die der Gesamtschule positiv gegenüber stehen, sogar Kultusminister.
Und das Christentum ausgerechnet für ein Gemeinschaftsschulsystem in Anspruch zu nehmen, ist historisch gesehen schon recht fragwürdig. Traditionell war speziell die katholische Kirche immer auf Seiten der konservativen Verteidiger von Privilegien. In Berlin (West) waren nach dem Zusammenbruch 1945 die beiden Kirchen alsbald gegen die gerade von den Alliierten eingeführte Einheitsschule und unterstützten 1950 die CDU-geführte Regierung bei deren Abschaffung und der Einführung des dreigliedrigen Schulsystems wie in der übrigen Bundesrepublik. Waren die beiden Kirchen damals unchristlich? Und in der Stadt Stuttgart hat mehr als die Hälfte der Schulkinder bereits jetzt einen Migrationshintergrund, die christlichen Grundsätze büßen also an Bedeutung ein. Manche sagen, der Islam gehöre jetzt zu Deutschland. Ob wohl das Christentum das richtige Argument ist, die vielen muslimischen Kinder schulisch zu versorgen? Im Islam ist manches anders, z.B. gehen Mädchen vielfach wenig oder gar nicht zur Schule.

Zur Bildungsgerechtigkeit noch ein Zitat von Zymek und Trautwein aus dem Jahre 2007:
"In Ländern und Regionen, die von stark segregierten urbanen Strukturen mit einer differenzierten Berufs- und Sozialstruktur geprägt sind, würde die Einführung integrierter Schulformen nur dann die Hoffnung auf den Abbau von Bildungsungleichheiten rechtfertigen können, wenn gleichzeitig alle - bislang durch Verfassungsrecht garantierten - Freiheiten auf die Errichtung von privaten und konfessionellen Schulen abgeschafft und eventuell auch noch die Mischung der Kinder aus verschiedenen Wohnvierteln in integrierten Schulen - etwa durch 'bussing' - erzwungen würde. Eine solche Schulpolitik erscheint unrealistisch."
Man vergleiche auch die schlechten Erfahrungen in Frankreich mit der "carte scolaire" (d.h.: der Schulbesuch ist zwingend im Wohnviertel vorgeschrieben).

BEHAUPTUNG DIENG: "1,5 Mrd. Euro jährlich geben die privaten Haushalte bundesweit für Nachhilfeunterricht aus - Baden Württemberg liegt mit 131 Euro pro Schüler an der Spitze Deutschlands."

DIE REALITÄT: Man könnte fragen: Ja und? Die nackte Zahl besagt erst dann etwas, wenn man die analoge Zahl in vergleichbaren anderen Ländern kennt. Bei einem Gemeinschaftsschulsystem gibt es dann keinen Nachhilfeunterricht mehr, ist das so? Baden-Württemberg liegt auch beim Einkommen in Deutschland mit an der Spitze, also ist auch mehr Geld vorhanden. In "armen" Ländern gibt es logischerweise weniger Aufwand für Nachhilfe, aber was soll das besagen? Auch die Größe und Ausstattung der Kinderzimmer in den Wohnungen dürfte ungleich und ungerecht verteilt sein. Sollen wir das auch beanstanden? Irreführend ist es jedenfalls, gleichzeitig die PISA-Sieger zu preisen, zu denen auch Japan gehört mit einer "Paukschule", einem hohen Leistungsdruck, einer hohen Selbstmordrate unter Schülern und viel Nachhilfe. Zwei Zitate hierzu:

"In Ostasien, insbesondere in Japan, Südkorea, Singapur und Hongkong, hat das Nachhilfewesen ein Ausmaß und einen Grad der öffentlichen Sichtbarkeit erreicht, dass von einer 'Schattenexistenz' keine Rede mehr sein kann, sondern eher der Begriff 'Parallel-Schulsystem' angemessen erscheint."
"So besuchen etwa in Japan in den letzten Jahrgängen der neunjährigen Grundschule rund die Hälfte aller Kinder Nachhilfeschulen (Juku), die sich zu einer Art von parallelem Schulsystem entwickelt haben. Dort büffeln nicht bloß Kinder mit Lernschwächen, sondern ebenso sehr gute Schüler, die ihre Chancen, in eine selektive Oberstufe aufgenommen zu werden, erhöhen wollen."

Hier die Quelle (Seite 24 und Seite 15).
NB: Die vier genannten Länder gehören zu den Siegern bei PISA 2012. Bei PISA 2015 war es ähnlich.

So sieht also die Kehrseite des längeren gemeinsamen Lernens aus: Es gibt selektive Aufnahmeprüfungen bei der anschließenden Höheren Schule, und insbesondere gibt es Eliteschulen mit hohen Ansprüchen. Solche Prüfungen kennt das deutsche Gymnasium traditionell nicht, auch nicht bei den Gymnasien mit hohen Ansprüchen (wohl aber bei den Sport-Eliteschulen, s. oben). Darin ist das deutsche System gerade weniger selektiv. Ob wohl Herr Dieng nach Einführung eines Gemeinschaftsschulsystems in Deutschland solche selektiven Aufnahmeprüfungen in die Oberstufe empfiehlt? Es ist absolut unehrlich, einerseits die fernöstlichen PISA-Sieger mit ihren Gesamtschulsystemen zu preisen und andererseits den Nachhilfeunterricht zu verteufeln, wenn es sich gerade in Japan so verhält wie oben beschrieben.

BEHAUPTUNG DIENG: "Dass bei einem gut umgesetzten 'Längeren gemeinsamen Lernen' die Guten nicht ausgebremst werden, zeigt folgende, wenig bekannte Tatsache: bei den PISA-Schulleistungsvergleichen ..."

DIE REALITÄT: Bei PISA 2012 im Fach Mathematik gibt es im Bericht Angaben über die Prozentsätze der Besten (Stufe 5-6) und der Schwächsten (unter Stufe 2). Das steht auf Seite 5 hier. Danach liegt der Anteil der Besten in Deutschland bei 17,5 %. Innerhalb Europas wird dies nur von der Schweiz, den Niederlanden und Belgien übertroffen (Zwergstaaten wie Liechtenstein vernachlässigt). Die hochgelobten Länder wie Kanada und Finnland liegen mit 16,4 % bzw. 15,3 % knapp dahinter, haben allerdings auch weniger Schwache aufzuweisen. Schweden hat nur 8 % und noch dazu mehr Schwache als Deutschland. Ganz vorne liegen die Ostasiaten mit bis zu 55,4 % der Besten in Shanghai, aber dort gibt es einen Leistungsdruck und einen Drill, den wohl keiner übernehmen will, besonders nicht die Gesamtschulbefürworter. Bei uns wollen wir doch eigentlich wegen der sozialen Gerechtigkeit lieber gar keinen Leistungsdruck haben, so erzählen es uns alle progressiven Politiker, Erziehungswissenschaftler und die GEW! Nach einer Abschaffung der Gymnasien würde der Leistungsdruck insgesamt sinken (das ist wohl keine Frage, sondern es wird ja sogar postuliert), was dann aber wohl auch ein Absinken dieses sehr guten Wertes von 17,5 % zur Folge hätte, so wie sich das bei den meisten europäischen Ländern entwickelt hat. Auch das "gut umgesetzte längere gemeinsame Lernen" wird eben nur postuliert, aber nicht in europäischen Nachbarländern realisiert.

SCHLUSSBEMERKUNG: Die Argumente in dem kritisierten Text erweisen sich als recht schwächlich. Die PISA-Studie wird in einseitiger Weise zitiert. Dabei wird übersehen, dass bei PISA 2012 Deutschland - jedenfalls innerhalb Europas - durchaus mit an der Spitze stand. Die Ergebnisse von PISA 2015 waren ähnlich. Die PISA-Ergebnisse scheinen nicht darauf hinzudeuten, dass Deutschland zwingend ein flächendeckendes Gesamtschulsystem braucht.