Zum neuen Bildungsplan 2016

Hier findet man die neuen Bildungspläne in Baden-Württemberg für alle Schultypen.
Die Inhalte (offiziell: "die inhaltsbezogenen Kompetenzen") gibt es in den Klassen 5-10 in vier verschiedenen Varianten:

- das grundlegende Niveau (entsprechend der Hauptschule/Werkrealschule)
- das mittlere Niveau (entsprechend der Realschule)
- das erhöhte Niveau (entsprechend dem "gymnasialen Niveau" der Gemeinschaftsschule)
- und dann noch einen "eigenständigen" Plan für das G8-Gymnasium.

Nun sollte man meinen, dass zwischen dem grundlegenden Niveau und dem G8-Gymnasium einige Welten liegen müssten. Dem ist aber nicht so. In den Klassen 5-6 sind die Unterschiede zwischen den Niveaus minimal, was eine "politische Vorgabe" war. Ferner sind grundsätzlich die Punkte für das G8-Gymnasium wörtlich übernommen vom erhöhten Niveau der Gemeinschaftsschule (mit wenigen Ausnahmen). Das ist in den Klassen 5-6 komplett so, die Klassen 7-9 werden weitgehend (mit wenigen Ausnahmen) wörtlich den Klassen 7-8 des Gymnasiums zugeordnet und Klasse 10 der Klasse 9 des Gymnasiums, dort aber nicht explizit für Klasse 9 ausgewiesen, weil man nur einen gemeinsamen Plan für die Klassen 9-10 hat. Das ist ein gewisses Verwirrspiel, das die wörtlichen Übereinstimmungen vielleicht auch etwas kaschieren soll. Die Klasse 10 am Gymnasium soll dann der Klasse 11 an Gemeinschaftsschulen entsprechen, und die Klassen 11-12 am Gymnasium den Klassen 12-13 an Gemeinschaftsschulen. Für diese Oberstufe gibt es überhaupt nur einen einzigen Bildungsplan in jedem Fach, was besagt, dass das Abitur am Gymnasium keineswegs höherwertig als das an Gemeinschaftsschulen zu sein hat, egal, ob sich das in der Praxis durchhalten lässt oder nicht. Bis auf diese Verschiebung bei den Klassenstufen sind die Ziele im einzelnen wörtlich übereinstimmend: Das erhöhte Niveau der Gemeinschaftsschulen entspricht insgesamt wörtlich dem G8-Gymnasium. Wenn man jetzt das Gymnasium abschaffen wollte, bräuchte man den Bildungsplan nicht zu ändern. Man bräuchte nur darauf hinzuweisen, dass alles, was am Gymnasium gelernt werden soll, ja auch in den Gemeinschaftsschulen gelernt werden soll. Im Schema sieht das so aus:

Gemeinschaftsschule | G8-Gymnasium
5-6 | 5-6
7-8-9 | 7-8
10 | 9
11 | 10
12-13 | 11-12

Systemwidrig daran ist nur die Zusammenfassung der Klassen 9-10 am Gymnasium, deren inhaltliche Aufteilung man mehr ahnen als sehen kann. Die pädagogische Fragwürdigkeit wird an dieser Gegenüberstellung sichtbar: In den Klassen 5-6 darf das Gymnasium keine weitergehenden Ziele und kein höheres Lerntempo haben als die anderen Schulen, obwohl das sehr naheläge (damit bereitet man gleichzeitig eine 6-jährige Grundschule vor), während die Klassen 7-9 am Gymnasium den Klassen 7-10 an den Gemeinschaftsschulen entsprechen. Danach wird der "Gleichschritt" annähernd wiederhergestellt, und die zweijährigen Oberstufen entsprechen einander wieder wortwörtlich. Dieses plötzliche Tempo in den Klassen 7-8 am Gymnasium kann nur als extrem ungünstig bezeichnet werden. Wenn ein Schnellzug eine Strecke in zwei statt in drei Stunden zurücklegen soll, muss seine Geschwindigkeit um 50 % erhöht werden: Drei Stunden mit Tempo 100 entsprechen zwei Stunden mit Tempo 150. Ob sich gerade das Alter zwischen 13 und 14 Jahren für ein solches Manöver eignet, darf wohl mit Recht bezweifelt werden. Im Alter von 10-12 ginge es vielleicht eher. Der Grund ist nur in der eher formalen "politischen Vorgabe" zu suchen, dass die Klasse 9 des Gymnasium der Klasse 10 der anderen Schulen und damit dem mittleren Schulabschluss entsprechen müsse.

Dieses könnte man günstiger aber mit einer "Umlage" der Klassen 5-10 auf die Klassen 5-9 erreichen, dann müsste das Tempo nur um 20 % erhöht werden (Bei der Bahn: 6 Stunden mit Tempo 100 entsprechen 5 Stunden mit Tempo 120). Wenn man davon ausgeht, dass ein Umlegen von 13 Schuljahren auf 12 gut und richtig ist, dann müsste man idealerweise nach 6 Jahren dort angekommen sein, wo man vorher nach 6 1/2 Jahren war, und man müsste das einigermaßen gleichmäßig verteilen. Rechnerisch würde sich das Lerntempo in der ganzen Zeit nur um ca. 8 Prozent erhöhen. Dazu bräuchte es nur auch in der (Gemeinschafts-)Grundschule so etwas wie ein "erhöhtes Niveau" für die offensichtlich intelligenten und lernfähigen Schüler zu geben
(die sich oft genug unterfordert fühlen, so ein hartnäckiges Gerücht). Man könnte sogar ein G9-Gymnasium mit einer nur dreijährigen Grundschule
(= erhöhtes Niveau der vierjährigen Grundschule; man vergleiche das beliebte "jahrgangsübergreifende Lernen" in der Grundschule) kombinieren und hätte auch so ein Abitur nach 12 Jahren ermöglicht, ohne dass es weiterer Verrenkungen beim Bildungsplan bedürfte. Dass man es gänzlich anders konzipiert, ist eine grundlegende Schwäche dieses Bildungsplans, und das belastet speziell die Gymnasien und fördert so indirekt das Prestige der Gemeinschaftsschulen (die ja auch finanziell bevorzugt werden, so ein hartnäckiges Gerücht).

FAZIT: Die größte Schwäche dieses Bildungspans 2016 liegt in seinen politischen Vorgaben.

Konkret bewirkten diese politischen Vorgaben auch, dass die gesonderten Fachkommissionen für das Gymnasium genötigt wurden, die inhaltlichen Punkte von den anderen Schulen wörtlich abzuschreiben und nur in der Mittelstufe etwas anders auf die Klassenstufen zu verteilen. Es scheint kaum einen einzigen inhaltlichen Punkt am Gymnasium zu geben, der nicht auch bei den Gemeinschaftsschulen auftaucht. Gelegentlich hat man minimale und rein redaktionelle Änderungen eingebaut, die aber nicht ins Gewicht fallen. Hier ein konkretes Beispiel bei der Mathematik zu Wurzeln im Plan zu den Klassen 7-9 bzw. 7-8. Die folgenden Formulierungen stehen so wörtlich bei allen drei Niveaus und natürlich auch beim Gymnasium:

(13) den Zusammenhang zwischen Wurzelziehen und Quadrieren erklären
(14) den Wert der Quadratwurzel einer Zahl in einfachen Fällen mithilfe benachbarter Quadratzahlen abschätzen
(15) Quadratwurzeln im Sachzusammenhang verwenden.


Beim erhöhten Niveau und beim Gymnasium (und nur dort) soll dann zusätzlich noch erklärt werden, dass die Wurzel eines Produkts gleich dem Produkt der Wurzeln ist, aber die Wurzel einer Summe nicht gleich der Summe der Wurzeln. Kubikwurzeln dagegen stehen wieder bei allen drei Niveaus.

Dass die sogenannten "prozessbezogenen Kompetenzen" in der Sekundarstufe bei allen Niveaus und Schultypen identisch zu sein haben, ist offensichtlich ebenfalls eine politische Vorgabe. Dazu zählen in der Mathematik auch solche Dinge wie "mit symbolischen und formalen Darstellungen der Mathematik arbeiten, mathematische Verfahren einsetzen, im mathematischen Modell arbeiten, Probleme analysieren, mathematische Argumentationsstrukturen nutzen, die Fachsprache angemessen und korrekt verwenden, mathematische Aussagen interpretieren und einordnen" und anderes. All dieses soll an der Hauptschule und am Gymnasium in gleicher Weise erreicht werden, nur anhand von leicht veränderten Inhalten.

Und dann gibt es noch zu allem Überfluss als politische Vorgabe die in allen Fächern und allen Schultypen einheitlichen sogenannten "Leitperspektiven"
- Bildung für nachhaltige Entwicklung
- Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt
- Prävention und Gesundheitsförderung
- berufliche Orientierung
- Medienbildung.

Das führt zu interessanten Gehirnverrenkungen, weil jedes Fach diesen Leitperspektiven dienlich zu sein hat, egal ob das passt oder nicht (selbstverständlich gibt es die berufliche Orientierung auch im Bildungsplan für die Grundschule). Bei der Mathematik heißt es in der Sekundarstufe:
"Aus dem Stellenwert des Faches Mathematik erwächst die Verantwortung, im Unterricht seine Bedeutung durch häufigen Bezug zur realen Welt herauszuarbeiten. Mit geeigneten, anwendungsorientierten Aufgaben und durch die Art der Behandlung können Aspekte der Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt aufgegiffen werden."
Natürlich muss die Mathematik auch der Gesundheitsförderung dienen und sogar der Gendergerechtigkeit:
"Während der Entwicklung ihrer mathematischen Fähigkeiten erkennen die Schülerinnen und Schüler auch ihre Interessen und Potenziale im mathematisch naturwissenschaftlichen Bereich und werden in der Erkenntnis gefördert, dass es hier keine geschlechtsspezifischen Unterschiede
zu geben braucht."

Es fehlt nur noch ein Passus der Art wie: "Der Unterricht fördert die Einsicht in die Richtigkeit der Politik der Landesregierung."

So stellt man sich heute in der Politik (und offenbar auch in der Didaktik und Pädagogik) das Lernen in der Schule vor. Praktisch ist zu befürchten, dass die unteren Niveaus damit überfordert sind und die Gymnasiasten eher unterfordert. Es entsteht der fatale Eindruck einer gewissen Art von "Bildungssozialismus", der in der Forderung nach der "einen Schule für alle" gipfelt. Die Linkspartei hat für den kommenden Wahlkampf zur Landtagswahl 2016 schon wissen lassen, dass langfristig das Gymnasium zwar nicht abgeschafft wird, es aber sehr wohl überflüssig werden wird, was nur eine Beschönigung der Abschaffung ist. So meldet es jedenfalls die Schwäbische Zeitung, siehe auch hier. Auch Aussagen von diversen anderen Parteipolitikern deuten tendenziell auf eine "Einheitsschule" hin. In Rheinland-Pfalz haben die Grünen es jedenfalls schon angekündigt, so die Rhein-Zeitung.

Zur Abschreckung hier noch eine "Stilblüte" aus dem Lehrplan für die Klassen 7-8 im Fach Englisch (unisono für alle Schultypen). Hier heißt es unter "3.2.2 Interkulturelle kommunikative Kompetenz":

"Die Schülerinnen und Schüler verfügen über soziokulturelles Orientierungswissen zu Themen ihrer Lebenswelt und ihres persönlichen Interesses. Aufgrund ihres Wissens über grundlegende zielkulturelle Konventionen können sie in vertrauten Kommunikationssituationen kulturell angemessen agieren."

Alles klar? Man vergleiche auch diese sehr entschiedene Kritik zur sogenannten Gleichschaltung des Schulsystems.